Der Mammut-Clan

Ein Abenteuer aus der eisigen Welt der Neandertaler

Roman

von Henning Engeln

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Leseprobe - Der Mammut-Clan

Kapitel 1 – Der harte Winter

Nach dem Schneesturm

Drag schob den Fellvorhang beiseite, schlüpfte durch die schmale Öffnung und trat auf den Höhlenvorplatz. Der Sturm hatte sich gelegt, aber noch immer strich ein scharfer, kalter Wind über die Felsen. Rechts neben dem Höhleneingang hatte der Sturm eine halbmeterhohe Schneewehe aufgehäuft, der Vorplatz selbst wirkte wie glatt gefegt. Es war dämmerig, die Sonne hatte sich noch nicht über die Großen Berge geschoben. Drag machte sich Sorgen. Dieser Winter war hart und andauernd wie schon lange nicht mehr. Das Fleisch war fast völlig aufgebraucht, die Brennstoffvorräte drohten ebenfalls zur Neige zu gehen. Der Mann wischte sich eine silberne Haarsträhne aus der Stirn und blickte prüfend in die schmuddelig weiß-grau schimmernde Ebene. Es würde riskant sein, bei diesem Wetter hinaus zu gehen; der Wind könnte sich wieder zum Schnee- und Sandsturm entfachen. Aber er wusste, dass einige der Männer trotzdem würden gehen müssen, um Vorräte herbeizuschaffen. Er selbst war zu alt, um mitzugehen. Ein schlecht verheilter Knochenbruch des rechten Beines und Schmerzen in den Gelenken hatten ihm die Kraft des Jägers geraubt. Schon 42 Wanderkreise – Jahre – hatte er durchlebt; das konnten nicht viele seiner Art von sich sagen. So war er nicht mehr in der Lage, mit den anderen zu jagen und Fleisch heranzuschaffen, doch konnte er mit den Frauen sammeln gehen und der Sippe mit seinen reichen Erfahrungen dienen. Doch das würde nicht reichen: Es würde nötig sein, die Zeichen der Geister zu deuten und sie günstig zu stimmen, um diesen harten Winter zu überstehen. Er musste mit Gruba reden.

Der alte Neandertaler drehte sich herum, um in das Gougatan, die Wohnstatt aus Fellen und Knochen, zurück zu schlüpfen. Der Höhlenvorplatz war etwa zehn Meter breit, gut zwei Meter tief und wurde von einem schützenden Felsendach überdeckt. Das vorspringende Dach fiel ab bis zum Höhleneingang, der nicht viel höher als ein Mensch und etwa doppelt so breit war. Diesen äußeren Eingang schützte ein Fellvorhang, hinter dem sich die Höhle zu einem größeren Gewölbe erweiterte. Dort hatten die Bewohner das Gougatan an eine halbkreisförmige Vertiefung in der rechten Seite des Felsens gebaut: Eine ovale Konstruktion von rund acht Metern Durchmesser, dessen hintere Begrenzung aus der Felswand bestand. Die vordere Wand hatten sie aus Knochen von Rentier und Mammut aufgetürmt, mit getrocknetem Steppengras isoliert und außen wie innen mit einer Fellschicht behängt. Lediglich ein schmaler, stets mit einem Fell verdeckter Eingang bot Durchschlupf ins Innere der Wohnstatt.

Gruba, die ebenfalls schon aufgestanden war, hatte das Fell vor der oben in der Wand liegenden Rauchabzugsöffnung beiseite geklappt. Jetzt hockte sie an der Feuerstelle und bemühte sich mit spitzem Mund, die Glut wieder zu einer Flamme anzublasen. Auch Olo und Waka waren erwacht, saßen inmitten der Bettstatt und blickten schlaftrunken auf den hereinkommenden Drag. Die anderen Sippenmitglieder schliefen fest unter dem Berg von Fellen. Nur eine hier und da herausragende Hand oder ein Kopf zeugten davon, dass hier in der Winterhöhle des Mammut-Clans noch weitere 13 Kinder und Erwachsene ruhten.

„Wetter vielleicht gut werden, vielleicht nicht gut werden“, meinte Drag. „Männer müssen gehen, Fleisch holen aus Lager“. Für den Sippenältesten war klar, dass die Jäger heute losziehen mussten, um aus einem Vorratslager Nahrung zu besorgen, auch wenn das Wetter nicht ganz ungefährlich für einen langen Ausflug war. Gruba warf Drag nur einen flüchtigen Blick zu, während Olo als einer der in Frage kommenden Männer nickte. Dann wühlten er und Waka sich aus den Decken heraus, zogen ihre Fellschuhe über und machten Bewegungen, um den Kreislauf in Gang zu bringen und sich warm zu machen. Die Temperatur in der Behausung lag noch unter dem Gefrierpunkt.

Gruba hatte inzwischen aus Glut und trockenem Gras eine Flamme entfacht, sie mit einem fetten Knochen zu einem kleinen Feuer entzündet und schlüpfte hinaus, um weiteres Brennmaterial von dem arg geschrumpften Haufen herbeizuschaffen, der neben dem Gougatan innerhalb der Höhle lag. Mit 36 Jahren war sie die älteste Frau der Sippe und damit „Hüterin des Feuers“ – eine verantwortungsvolle Aufgabe, von der das Überleben der kleinen Gruppe abhing. Denn ohne Glut vermochten sie auch dem fettesten Knochen und dem trockenstem Grashalm keine Flammen zu entlocken. Gruba packte ein paar Schulterblätter, einen Oberschenkelknochen vom Mammut und eine Speckschwarte. Als sie wieder im Gougatan vor der Feuermulde saß und aus dem kleinen Flämmchen ein wärmendes Feuer erwuchs, kam langsam Leben in die Behausung. Die erwachsenen Jäger Umu, Nagok und Ebo streiften ihre Schuhe über; Umu schlüpfte durch den Eingang, um draußen seine Notdurft zu verrichten. Runa, Jingho und Tamog tobten unter den Decken herum, während Seeta auf der Kante der Bettstatt saß und ihre eineinhalbjährige Tochter Gat säugte. Jingha hingegen lag noch unter den Fellen; sie hatte unter der kargen Ernährung besonders zu leiden, denn ihr zweiter Sohn war erst 11 Monde alt und sie trug schon wieder neues Leben in sich. Ihre Milch war knapp und drohte zu versiegen. Plötzlich sprang sie auf, lüftete ihren Mantel und hielte das Kind, das sie direkt am Körper getragen hatte unterhalb des Mantels etwas von sich ab; instinktiv hatte sie gespürt, dass der Kleine Wasser lassen musste. Nachdem der Strahl versiegt war, kehrte sie nochmals unter die Felle der Bettstatt zurück. Das riesige Gemeinschaftslager erstreckte sich über die ganze Länge des Gougatan und war tiefer als ein Mensch lang war. Es schmiegte sich bogenförmig an die hintere Höhlenwand und bestand aus einer dicken Lage kleiner Äste und getrocknetem Gras, bedeckt von zwei Schichten aus Rentierfell. Als Decke dienten mehrere Lagen verschiedener Felle.

Inzwischen war es so hell geworden, dass auch durch die Rauchöffnung ein wenig Licht in das Gougatan fiel; Zeit für die Lagebesprechung der Jäger. Wie auf ein geheimes Zeichen, aber ohne ein Wort zu wechseln, hockten sich die fünf erwachsenen Männer um das Feuer. Das Jagen von Großwild und das Herbeischaffen von Nahrung über größere Entfernungen war Männersache. Zwei Jugendliche standen abseits und schauten interessiert zu den Erwachsenen. Es war dem Gesicht Ekis anzusehen, dass er am liebsten mit hinaus gehen würde, so sehr brannte er vor Tatendrang. Doch der 15-jährige Sohn von Gruba und Olo hatte noch nicht die Jägerweihe empfangen, obwohl er fast schon erwachsen war. Davon war sein Freund Dani noch weiter entfernt, der zwei Wanderkreise weniger durchlebt hatte, aber ständig mit Eki zusammen hockte.
„Wir haben zwei Lager“, begann Drag.
„Zwei Lager“, wiederholte Nagok.
„Zwei Lager, rak!“, betonte Umu.
„Zwei Lager voll mit Fleisch von Rentier“, meldete sich Ebo. Und auch Olo bezeugte, dass er Bescheid wusste: „Olo wissen, wo Lager sein“.
Nun bekräftigten die anderen, dass sie ebenfalls wussten, wo sich die Lager mit den Vorräten befanden. Es handelte sich um zwei Stellen in der Nähe der Rentierenge, die sich etwa einen halben Tagesmarsch östlich der Höhle befand. Dort hatte die Gruppe im vergangenen Herbst Rentiere gejagt und wie üblich jenen Teil der Beute unter Steinen verdeckt zurückgelassen, den sie nicht mit in die Höhle zu schleppen vermochte. Als eiserne Reserve für Notzeiten. „Drag sagen: Drei Männer müssen zu Lager gehen“, schlug der Sippenälteste vor und die anderen pflichteten bei „Drei Männer, rak!“.
„Olo, Umu, Nagok gehen, Ebo bleiben“, entschied Drag. Ebo protestierte zwar, denn er hätte gerne an der ehrenvollen Aufgabe teilgenommen. Doch es war wichtig, dass einer der kräftigen erwachsenen Männer bei der Gruppe blieb. Und da die anderen dem Ältesten zustimmten war klar, dass Ebo in der Höhle blieb.
„Weg lang sein, Zeit knapp werden. Wetter vielleicht gut werden, vielleicht Schnee fallen und kalt sein“, fuhr Drag fort.
„Langer Weg egal, Männer schnell gehen, Männer gute Jäger sein“, entgegnete Olo, „Wetter mehr schwierig“.
„Wetter schwierig“, meinte auch Umu.
„Wetter vielleicht gut, vielleicht nicht gut werden, schwierig, schwierig“, ließ sich Nagok vernehmen.
„Wenn Wetter schwierig werden, Menschen müssen Windgeist fragen“, schlug Ebo vor.
„Rak!“, stimmte Drag zu. „Gruba müssen Windgeist fragen. Gruba hinausgehen, Zwiesprache halten?“. Der grauhaarige Jäger blickte erwartungsvoll auf die älteste Frau im Clan. Denn sie war nicht nur Hüterin des Feuers, sondern auch die Damughana, die Schamanin, und deshalb im Umgang mit den Geistern vertraut. Gruba nickte Drag zu, nahm ein Stück roten Ockers und verschwand durch den Eingang. Draußen auf dem Höhlenvorplatz, kurz vor der Kante, an der der Berg steil abzufallen begann, hockte sie sich hin und zeichnete mit der roten Farbe eine Art Kreis und mehrere wellenförmige Linien. Dann schloss sie die Augen und begann einen eindringlichen, mehrere Minuten andauernden Singsang, bei dem sie ihre Stimmlage mehrfach wechselte.

Gruba redete in einer geheimen Sprache mit dem Windgeist. Sie beschwor ihn, sich heute der Ruhe hinzugeben, die Männer ungestört Nahrung holen zu lassen und versprach ihm dafür ein Opfer und einen Ehrentanz während des Sommerfestes. Gruba fragte den Windgeist, warum er so erzürnt sei, dass er tagelang über die Ebene hatte tosen müssen und ob sein Zorn nun vorüber sei. Und als die Damughana in sich hineinhorchte, hörte sie eine sanft säuselnde Antwort, die sich als ermutigendes Zeichen deuten ließ.

Eng aneinander geschmiegt hatten Eki und Dani die Schamanin durch den Fellschlitz am Eingang der Behausung beobachtet. Sie spürten die Anspannung, die die Alte, aber auch die anderen Männer insgeheim ergriff, wenn sie sie auch nicht nach außen zeigten. Vom Ausgang dieser Expedition hing viel für die Gruppe ab. Die kleineren Kinder hingegen ahnten nichts und tobten vergnügt auf dem Bett herum, quakten nach Essen oder spielten mit Knochenstückchen.

Unterdessen hatten Olo, Umu und Nagok Mäntel und Kapuzen umgelegt und sorgfältig zugeschnürt. Dabei behielten die Frauen ein Auge darauf, dass die langen Striemen der Kleidung perfekt verdrillt waren, denn nichts wäre fataler, als wenn der eisige Wind durch eine Ritze an den Körper gelangen und ihm die Wärme rauben könnte. Die Männer hatten sich Gürtel umgebunden, ihre Steinäxte mit den Holzschäften hineingesteckt und einige Ersatzschnüre und Bändsel mitgenommen. Dann hatten sie ihre Fäustlinge übergestülpt, die hölzernen, vorne mit einer Steinspitze versehenen Speere genommen und sich mit einem „Männer gehen, zurückkommen wenn Tag fertig, Fleisch bringen“ von der Gruppe verabschiedet. Umu und Nagok packten eine der beiden hölzernen Tragen, die an der Felswandwand im Höhleninneren neben dem Gougatan lehnten und legten ihre Speere darauf. Olo war schon voraus geschritten, blickte fragend zu Gruba, die auf dem Vorplatz wartete und ihren Aufbruch beobachtete. Die Damughana nickte Olo aufmunternd zu und kehrte ins Innere der Höhle zurück als Umu und Nagok auftauchten. Nun wussten die drei Männer, dass der Windgeist ihnen wohl gesonnen war. Sie zogen los, Olo voran, die beiden anderen mit der Trage hinterher.

Der alte Drag war mit Umu und Nagok hinaus gekommen und hatte sie bis zum Rand des Vorplatzes begleitet. Dort oben stand er jetzt und blickte den drei Jägern hinterher. Mit seinem mächtigen Überaugenwulst, den wuscheligen, silbergrauen Haaren und den strahlend blauen Augen bot er eine imposante Erscheinung. In seinem kräftigen, weit nach vorne ragenden Kiefer prangten gewaltige Zähne, die schon stark abgenutzt waren. Das vorspringende Gesicht, der flache Scheitel und das nach hinten verlängerte Hinterhaupt verliehen dem Schädel ein längliches Aussehen. Gleichzeitig aber gingen der Kopf, der breite Nacken und die Schulter fast nahtlos ineinander über und gaben dem Körper eine gedrungene, kompakte Form. Kiefer, Nacken, Schultergürtel, Arme und Beine waren zudem mit starken Muskelpaketen ausgestattet, die dem Mann trotz seiner Verletzungen noch immer enorme Körperkräfte verliehen.

Schon oft in seinem Leben hatte er gefährliche Situationen gemeistert und so konnte er erahnen, auf welch riskantes Abenteuer sich die Männer einließen. Während er ihren Abstieg verfolgte, ließ er den Blick routinemäßig mehrfach über die Gegend bis weit in die Ebene schweifen. Und da wurde er plötzlich stutzig. Waren da draußen nicht zwei sich bewegende Punkte zu sehen, Lebewesen? Seine Augen funktionierten noch immer sehr gut, aber die Objekte waren zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen. Die Art, wie sie sich bewegten, erinnerte den Alten nicht an die von Tieren, die er kannte. Aber Menschen? Es schien ihm unmöglich, dass sich zwei Menschen bei dieser Witterung dort unten in der Ebene aufhalten konnten. Die Punkte wurden kleiner und verschwanden schließlich. Drag ließ die Beobachtung auf sich beruhen, doch tief in seinem Inneren ließ sie ein beunruhigendes Gefühl zurück.

Angriff der Wölfe

Der Weg führte die Jäger die Bergflanke hinunter, in deren oberem Abschnitt die Höhle lag. Kurz vor Erreichen der Ebene wurde der Hang noch einmal sehr steil. Hier wirkte der Felsen wie von einem riesigen Messer abgeschnitten. Doch die Männer kannten einen Pfad, der auch diesen Steilhang gefahrlos passieren ließ. Nach etwa 20 Minuten hatten sie die Ebene erreicht. Sie war riesig, erstreckte sich nach Süden und Südwesten hin soweit das Auge reichte. Ganz im Westen konnte man eine kleine Hügelkette erkennen, im Norden, hinter den Männern, lag das Bergmassiv mit der Höhle und im Südosten erhoben sich in der Ferne hohe Berge. In diese Richtung hielten sich die drei Jäger, marschierten mit kräftigen Schritten parallel zur Kante des Höhlenbergmassivs, das sich den gegenüber liegenden Ausläufern der fernen, hohen Berge näherte.

Die Sonne hatte sich über die Gipfel erhoben, verbarg sich jedoch hinter einem breiten Wolkenband und verlieh ihm einen weißrötlichen Schein. Abgesehen von diesem Wolkenband war der Himmel klar und tiefblau. Die Reste einer Wolkendecke, die noch vor kurzem den ganzen Himmel bedeckt hatte, waren weggetrieben. Die Ebene bot einen einförmigen, trostlosen Anblick: wo kein Schnee lag, langweilte ein graubrauner Boden mit vertrockneten Gräsern das Auge, gelegentlich unterbrochen von einem glatt geschliffenen Felsblock, der heller schimmernd aus der platten Fläche herausragte und hinter dem sich dann eine Schneewehe angehäuft hatte. Rund die Hälfte der Fläche war mit einer Mischung aus Pulverschnee und Flugsand bedeckt, was dem Weiß ein schmuddeliges Aussehen verlieh. Es schneite nie viel in den Wintern, so dass die Jäger nicht mit tiefem Schnee zu kämpfen hatten und die paar Anhäufungen leicht umgehen konnten. Gefährlich werden konnte die Kälte, vor allem wenn sie sich mit heftigen Windböen zu einem eisigen Messer verband. Doch zum Glück für die Jäger regte sich zurzeit kaum ein Lüftchen.

Wortlos und mit kräftigen Schritten bewegten sich die drei Gestalten voran. Nach etwa zwei Stunden passierten sie die „Augen der Erde“, ein Gebiet aus Steinringen mit mehreren Metern Durchmesser, deren Rand aus hellen Steinen aufgeworfen war, während ihr Inneres aus feinkörniger, dunkler Erde bestand. Die Jäger hüteten sich, diesen unheimlichen Formationen zu nahe zu kommen und umgingen das Gebiet mit gebührendem Abstand. Die hohen Berge waren um einiges näher gerückt, deutlich war das breite, weißliche Massiv des Gletschereises auf ihnen zu erkennen. Doch die Jäger schritten nicht weiter auf den Gletscher zu, sondern hielten sich nördlicher. Dort näherten sich die Ausläufer der hohen Berge und das Höhlenbergmassiv so weit, dass sie eine nur wenige hundert Meter schmale Enge bildeten. An dieser „Rentierenge“ hatten die Neandertaler im Herbst auf die ziehenden Rentierherden gelauert und reiche Beute gemacht, hier hatten sie auch einen Teil dieser Jagderträge deponiert.

Dem ersten Wolkenband waren weitere gefolgt und der Himmel hatte sich inzwischen wieder fast völlig bedeckt. Der Wind frischte auf, schnitt eisig ins Gesicht. Er wehte aus Richtung Ost bis Südost, vom Gletscher her oder auch aus der Ebene jenseits der Rentierenge. An der Enge endete das Territorium der Sippe; weiter waren sie niemals gekommen und auch ihre Ahnen hatten diese Grenze nie überschritten. Aus dem Osten bliesen im Winter die kalten Schnee- und Staubstürme. Kurz vor der Rentierenge, auf einem steilen Felsmassiv, wohnte der Windgeist, der diese Stürme lenkte. Ihm genau gegenüber in den hohen Bergen, dort wo das Eis des Gletschers thronte, hauste seine Schwester, die Schneegeistin. Schlimm wurde es, wenn das Geschwisterpaar sich traf und die beiden zusammen tanzten; das gab die schlimmsten Stürme und wehe dem, der seine Höhle nicht rechtzeitig erreichte und sich unter den Fellen verkriechen konnte, bis die beiden ihre Leidenschaft ausgetobt hatten.

Schnee, Firn, gefrorene Gräser knirschten unter den Schritten der Jäger. Es mochten etwa fünf Grad unter dem Gefrierpunkt sein. Kalt war ihnen nicht, denn die Fellkleidung war solide und durch die Bewegung erzeugten sie reichlich Körperwärme. Nur der Magen knurrte, die drei hatten angesichts der knappen Situation in der Höhle keine Verpflegung mitgenommen und hofften auf Fleisch aus den Vorratslagern. Olo stoppte und blickte angestrengt in die Ferne. Rechts und nicht mehr sehr weit entfernt, endeten die Ausläufer der hohen Berge in einer schroffen Felskante, die sechs bis acht Meter fast senkrecht abfiel. In der Mitte lag die schmale Rentierenge. Sie wurde zur Linken von den eher sanft abfallenden Flanken des Höhlenbergmassivs begrenzt. Sie türmten sich aber immer noch steil genug auf, um die Rentiere abzuhalten. So blieb den Tieren auf ihrer Wanderung nichts anderes, als die Enge zu passieren. Eine Felsenkuppe in diesen Ausläufern pflegten die Jäger im Herbst zu erklimmen, um die Ankunft der Rentiere zu erspähen und ihnen hier aufzulauern.

„Olo Lager sehen“, meinte der Jäger und setzte seine Beine wieder in Gang, um mit beschleunigten Schritten auf jene Stelle zuzugehen, auf die er geblickt hatte. Die beiden anderen folgten wortlos. Es war eine kaum auffällige Anhäufung von Steinen, die das Vorratslager kennzeichnete. Nach zehn Minuten, sie waren der Stelle schon recht nahe gekommen, stoppte Olo erneut, sammelte einen Knochen auf und runzelte die Stirn. Es handelte sich um das Schienbein eines Rentieres. Der Jäger schaute in die Runde, sah in der Ferne weitere Knochenreste herumliegen. Ihm schwante nichts Gutes. Nagok und Umu war noch nicht klar, was geschehen war, lasen jedoch aus Olos sorgenvoller Miene, dass es Schwierigkeiten geben würde. Die drei trabten auf die Steinanhäufung zu, hielten an und blickten auf die Bescherung: ein Teil der Steine war beiseitegeschoben und das Lager komplett geplündert worden.
„Lager leer“, schnaubte Olo, stampfte mit dem Fuß auf und stieß das Ende seines Speeres wütend gegen den Boden. Umu und Nagok machten betretene und ratlose Gesichter.
„Lager leer“, meinte Nagok, „Wer Fleisch rauben?“
„Olo denken Wölfe“.
„Wölfe, umh. Wölfe Fleisch holen?“, sagte Umu. Aus seiner Stimme klangen Zweifel.
Olo gewann seine Fassung wieder. Er war jemand, dessen Ärger und Erregung sich genauso schnell legten, wie sie kamen. Es hatte jetzt weder Sinn, sich weiter aufzuregen noch sich in die Enttäuschung fallen zu lassen oder darüber nachzugrübeln wie das hatte passieren können. Und doch wunderte er sich, denn eigentlich hatten sie ihre Lager immer so gut mit Steinen beschwert, dass Wölfe sie nicht zu öffnen vermochten.
„Eja!“ rief Umu plötzlich und wies mit der Hand auf etwas, das ein paar Meter weiter vor ihnen am Boden lag. Olo schritt darauf zu, hob es auf und stieß einen Überraschungsruf aus. Es war aus Fell, mit Dreck und eingetrocknetem Blut verschmiert und erst beim zweiten Hinsehen als das zu erkennen, was es war: Ein Handschuh. Aber ein Handschuh von einer Machart, wie ihn die Jäger noch nie erblickt hatten.
„Menschen kommen, Lager aufmachen, Fleisch rauben. Nicht Wölfe“, meinte Nagok aufgebracht. Sich einfach an den Vorräten anderer zu bedienen, war ein schweres Vergehen. Doch das war nicht alles.
„Menschen Fremde sein“, fügte Olo nachdenklich hinzu und brachte damit zum Ausdruck, was alle drei noch mehr als die Empörung beschäftigte: Hier waren Jäger am Werk gewesen und hatten ihr Lager geplündert, die nicht in diese Region gehörten. Und das war etwas, das sie sich nicht erklären konnten. Niemals hatten sie an der Rentierenge fremde Menschen bemerkt. Und schon gar nicht solche, die ein derartig seltsames Kleidungsstück anfertigten.

Olo klemmte den schmutzigen Handschuh wie ein Beweisstück unter seinen Gürtel und dachte nach. Was geschehen war, war nicht zu ändern. Die Zeit war knapp, aber das zweite Lager nicht weit entfernt. Es blieb ihnen keine andere Wahl als noch dieses Lager aufzusuchen und zu hoffen, dass es noch nicht entdeckt und geplündert war.
„Männer gehen zu anderes Lager. Zeit knapp, Männer laufen, haj?“
Umu und Nagok packten die Trage, die sie bei der Ankunft am Lager auf den Boden gelegt hatten, und dann trabten die drei Jäger los. Sie waren gute Läufer, hatten trotz des stundenlangen Marsches noch reichliche Kraftreserven. Mittag war schon vorbei, die Bewölkung hatte sich verdichtet. Nach gut zehn Minuten erreichten sie schwitzend das zweite Versteck. Sie hatten Glück, das Lager war unversehrt. Umu und Nagok ließen das Tragegestell auf den Boden fallen, und die drei Männer begannen, einige der Steine zu lösen, die das Vorratslager bedeckten. Das war nicht einfach, denn Schnee und Frost hatten die Steine zu einer festen Masse verbunden. Mit der Kraft ihrer Fäuste, Steinhieben und ab und zu dem Gebrauch eines Speerschaftes gelang es den Jägern, den Steinwall beiseite zu räumen. Sie brachten den Kadaver einer jungen Rentierkuh zum Vorschein und zerrten ihn aus der Grube hinaus. Kopf und eine Keule fehlten bereits, waren schon im Herbst von den Jägern abgetrennt worden, um die Beute für den Transport leicht genug zu machen. Die drei Männer hackten sich mit ihren Steinäxten Stückchen gefrorenen Fleisches ab und schoben es in den Mund. Nagok fluchte, als seine Axt an dem gefrorenen Fleisch in zwei Teile zerbrach. War es einfach nur Pech, war es Ungeschicklichkeit, war es ein Wink der Geister? Olo jedenfalls deutete es später so, als das Verhängnis seinen Lauf genommen hatte. Normalerweise wäre eine kaputte Axt kein Problem gewesen. Geeignete Steine als Rohmaterial gab es genug in der Gegend; sie hätten problemlos Ersatz finden, in kurzer Zeit eine neue Schneide durch Abschlagen herstellen und mit Lederriemen an dem hölzernen Schaft befestigen können. Doch an diesem Tag hatten sie keine Zeit zu vergeuden. Olo mahnte zum Aufbruch.

Sie hievten den Rentierkadaver auf die Trage aus zwei langen hölzernen Stangen, die durch zwei Querstreben miteinander verbunden waren. Befestigt waren sie mit Lederriemen. Weitere Lederriemen bildeten den Boden zwischen diesem Rahmen aus Holz. Nachdem sie das Lager wieder mit Steinen verschlossen hatten, begannen Olo und Umu mit dem Tragen, während Nagok voran schritt. Erneut begann ein stummer, langer Marsch. Olo überlegte. Selbst wenn sie weiter so schnell gingen wie bisher und es keine Hindernisse gab, würden sie nicht vor Beginn der Dämmerung in der Höhle eintreffen. Immerhin, und das war ein gewisser Trost, würde die bereits zu drei Vierteln gewachsene Mondgeistin bald am Himmel stehen.

Der Wind frischte noch mehr auf, doch er blies ihnen jetzt in den Rücken und war weniger unangenehm als auf dem Hinweg. Die Männer wechselten mit dem Tragen ab, machten ab und zu kurze Rast, nahmen bei Durst ein wenig Schnee in den Mund. Frieren taten sie nicht, doch die Holme der schweren Trage schmerzten mehr und mehr auf den Schultern. Etwa die Hälfte des Weges mochten sie hinter sich haben, als Nagok, der gerade voranging, plötzlich stutzte und angestrengt in die Ferne starrte. Die scharfen Augen des Jägers hatten einen sich bewegenden Punkt ausgemacht.
„Lebewesen, dort!“, rief Nagok aus und zeigte in die Richtung.
Nagoks Gefährten setzten die Trage ab und spähten ebenfalls in die Ferne. Alles was sich bewegte, weckte unweigerlich das Interesse der Jäger, denn es bedeutete fast immer entweder Beute oder Gefahr.
„Zwei Lebewesen, viele Lebewesen, Tiere!“, fuhr Nagok fort. Waren es auch nur Punkte, so konnte er doch an der Art der Bewegung erkennen, dass es sich nicht um Menschen handelte. Die drei Männer blickten eine Weile schweigend auf die sich bewegenden Punkte und schließlich sprach Olo aus, was die anderen auch befürchteten.
„Olo denken Wölfe“. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, denn ihm war ein schlimmer Fehler unterlaufen: Er hatte vergessen, den Wolfsgeistern ein Stück Rentierfleisch zu opfern. Dieses Versäumnis und Nagoks zerbrochene Axt waren böse Omen. Die Wölfe würden sie angreifen, so viel war schon jetzt abzusehen.

Die Männer ergriffen die Trage und schritten voran, schneller diesmal, von der Unruhe der Verfolgten getrieben. Und richtig, die dunklen Punkte näherten sich ihnen, wuchsen zu Schatten, die ihnen bald folgten, bald vorangingen, bald rechts, bald links auftauchten. Fünf, sechs Wölfe mochten es sein, und sie waren sicher ausgehungert. Noch hielten sie sich in respektvoller Entfernung, versuchten aus der Distanz auszuloten, ob da ein leichtes Opfer zu erbeuten war oder ob es sich um starke, wehrhafte Gegner handelte. Unter anderen Umständen, so wussten die Männer, würden die Wölfe es nicht wagen, drei gesunde Männer anzugreifen, doch war ebenso klar, dass die Tiere ihnen jetzt auf den Fersen bleiben und irgendwann angreifen würden – vor allem, wenn sie eine Schwäche bei ihren Opfern witterten. Denn in diesem harten Winter tobte ein erbarmungsloser Überlebenskampf.

Die Jäger spürten, wie der Ring immer dichter wurde, wie der Hauch des Todes sich an ihre Fersen geheftet hatte. Umu und Nagok hatten jetzt die Trage mit der schweren Last auf den Schultern, Olo ging mal vor ihnen, mal hinter ihnen, spähte angestrengt nach den Raubtieren, schwenkte drohend den Speer, um ihnen zu zeigen, dass sie hier auf eine wehrhafte Beute stoßen würden. Umu hatte seine Axt aus dem Gürtel gezogen, hielt den Holm der Trage nur mit der linken Hand auf den Schultern, Nagok hatte seinen Speer in die rechte Hand genommen. Hielten sie an, um die Last abzuladen und sich ein wenig auszuruhen, verschwanden die Wölfe in größere Entfernung; offensichtlich spürten sie genau, dass die drei Männer dann wehrhafter waren, beim Tragen des Rentierkadavers hingegen verwundbar. Das Licht wurde fahler, die Höhle rückte näher. Olo hoffte, dass die anderen ihre Lage erkennen und ihnen zu Hilfe eilen würden. Doch noch waren sie zu weit entfernt. Sollten sie das Rentierfleisch opfern, um die Wölfe zu besänftigen und ihre Haut zu retten? Nein, das konnten sie nicht tun, sie waren es den anderen Sippenmitgliedern schuldig, das Fleisch herbeizuschaffen. Sie mussten es schaffen, mit den Räubern fertig zu werden.

Olo bemerkte, dass die Wölfe sich in zwei Gruppen gespalten hatten; drei liefen links vor ihnen, drei hinter ihnen. Sie waren verdammt schlau, die Biester, wussten, wo die schwächsten Stellen waren. Olo ging ebenfalls auf der linken Seite, starrte angestrengt vor und zurück, wünschte sich, dass er jetzt am Hinterkopf ein paar zusätzliche Augen gehabt hätte. Die Tiere hatten sich auf rund zehn Meter genähert. Plötzlich kamen die hinteren Wölfe schnell dichter heran, schienen Nagok attackieren zu wollen. Olo sprang heran, um dem ersten seinen Speer ins Fell zu jagen. Doch blitzschnell hatten sie sich wieder abgewendet, und dann schrie Umu auf. Die Attacke von hinten war nur ein Scheinangriff gewesen, jetzt hatte eines der Tiere den Mann vorn an der Trage angefallen. Ein riesiger Wolf hatte Umus Bein gepackt, aber der Jäger holte sofort aus und schlug dem Tier sein Beil gegen den Nacken. Der Hieb mochte dem dichten Winterfell des Raubtieres nicht viel ausgemacht haben, doch glitt Umu gleichzeitig die Trage von der Schulter und das gefrorene Rentier rutschte auf den Wolf. Der ließ daraufhin das Bein des Jägers los und zog sich ebenso flink zurück wie er herangeschnellt war.

Die anderen Wölfe waren nicht zum Angriff gekommen; Olo war Umu sofort zu Hilfe geeilt, auch Nagok hatte die Trage hingeworfen und hielt seinen Speer mit beiden Händen in Richtung der hinteren Wolfsgruppe. Umu stand zitternd da, betrachtete und befühlte sein Bein. Die Zähne des Tieres waren bei dem sekundenschnellen Angriff zum Glück kaum durch das dichte Fell der Hose gedrungen und hatten die Haut des Jägers nur geritzt.
„Hojii! hojii!“, brüllte Olo so laut er konnte durch die Dämmerung. „Wölfe kommen, Männer Hilfe brauchen! Hojii, hojii!“ Sicher warteten die anderen schon sehnsüchtig auf sie und spähten vom Höhlenvorplatz nach ihnen. Aber Olo wusste, dass die Aussichten, ihn von dort aus zu hören, verschwindend gering waren. Die Männer machten ein paar Minuten Rast, dann luden sie das Fleisch wieder auf die Trage und marschierten weiter. Eigentlich hatten die Jäger enorme Körperkräfte, doch das stundenlange Tragen der schweren Last und die mangelhafte Ernährung der letzten Zeit zehrten an ihren Reserven. Wie ein böser Geistertraum erschien ihnen diese Expedition in der endlosen Ebene, eingehüllt in dämmeriges Licht, umgeben von Schatten, die sich plötzlich aus dem Grau des Bodens lösen und in reißende Raubtierzähne verwandeln konnten.

Olo hatte Umu vorn an der Trage abgelöst. Die Wölfe hatten sich auf eine respektvolle Entfernung zurückgezogen, begannen jedoch bald wieder mit ihrer Einkreisungstaktik. Die ständige Gefahr eines Angriffs, das schwere Drücken der Holme, die Angst im Nacken und das fahle, unwirkliche Licht zermürbten die Jäger zusehends. Dann waren die Wölfe plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Hatten die Räuber aufgegeben, sollten die Geister den Menschen wohl gesonnen sein, gab es wirklich Hoffnung? Doch dann sah Umu vor sich riesige Schatten und mehrere Paare glühender Augen, die sich wie ein Verhängnis auf ihn stürzten. Der Jäger schrie auf, riss den Speer hoch, doch wieder war es eine Scheinattacke, die Wölfe drehten ab. Gleichzeitig ertönte von hinten ein markerschütternder Hilfeschrei. Umu schnellte herum, Olo hatte die Trage bereits abgeworfen und seine Axt erhoben. Sie sahen gerade noch wie Nagok unter der Last zweier Wölfe zusammenbrach; einer hatte ihn am Arm, der zweite am Bein gepackt. Umu stieß dem einen Tier seinen Speer tief in die Flanke, Olo versetzte dem anderen mit der Axt einen Hieb auf die Schnauze. Der Wolf ließ Nagok los und zog sich jaulend zurück. Olo drehte sich wieder herum, um nach seinem Speer zu suchen, der auf der Trage gelegen hatte und zusammen mit dem Rentierfleisch auf den Boden gestürzt war. Er sah wie drei der Raubtiere den Rentierkadaver packten und ein Stück davon schleiften. Olo hob seinen Speer auf und wandte sich Nagok zu. Umu hatte sich bereits neben ihn gekniet und versuchte, dem Verletzten auf die Beine zu helfen. Der Wolf, den er durchbohrt hatte, lag regungslos am Boden.

Nagok hatte es böse erwischt. Er blutete an Arm und Bein, konnte kaum noch auftreten.
„Nagok große Wunde haben“, meinte Olo. „Männer müssen schnell zu Höhle gehen“.
„Große Wunde, viel Blut, Kälte schwierig“, pflichtete Umu bei. Der Verletzte starrte schweigend und wie von allen Seelen verlassen vor sich hin. An eine Wundversorgung war jetzt nicht zu denken. Nagoks Gefährten banden die zerrissene Kleidung mit Lederriemen soweit zusammen, dass sie einigermaßen gegen die Kälte schützte.
„Wolfgeister zornig waren, jetzt Fleisch haben, nicht mehr zornig sein“, stellte Olo fest und fuhr fort: „Wir Nagok tragen“.
Er bedeutete Nagok sich auf das Holzgestell zu legen. Das Fleisch war verloren, jetzt galt es, das nackte Leben zu retten. Aber immerhin, die Wölfe hatten ihren Tribut bekommen und würden sie jetzt in Ruhe lassen. Umu und Olo hoben die Trage mit ihrem verletzten Gefährten an und marschierten los. Nach einer Viertelstunde bemerkte Nagok, wie Bein und Arm zu brennen begannen und wie in seine übrigen Körperteile eine eisige Kälte kroch. Aber dann bemerkten sie die Fackeln auf dem Hügel. Die Höhle war nah, Ebo, Gruba und Eki waren ihnen entgegengekommen.

Der Kreislauf der Seelen

Ich bin Dani und habe schon so viele Wanderkreise mitgemacht, dass ich bald ein Mann sein werde. Meine Mutter ist Waka und mein Vater ist Ebo; beide sind schon alt. Und ich habe einen Bruder, das ist Tamog. Der ist viel jünger als ich. Früher hatte ich noch einen Bruder, der war aber so jung, dass er noch nicht einmal einen Wanderkreis mitgemacht hatte als seine Tierseele – das ist das Shoghee – ihn wieder verließ. Da mussten wir ihn in die Erde legen, damit sein Shoghee sich einen neuen Körper suchen und kein Unheil anrichten konnte. Früher hatte ich auch eine Schwester, das war Raka. Sie hatte mehr als einen Wanderkreis mitgemacht und deshalb erhielt sie während des Sommerfestes ihre Namensseele, das Thanghee. Sie hatte noch mehrere Sommerfeste erlebt, aber dann hat ein Dämon ihr Thanghee geholt und da ist dann auch das Shoghee gegangen.

Wir haben aber noch viele weitere Kinder im Clan. Eki mag ich am meisten; er ist älter als ich. Früher haben wir viel zusammen gespielt, aber das geht nicht mehr, denn jetzt ist er zu alt und will beim nächsten Sommerfest seine Mannseele holen. Eki hat zwei Schwestern. Das sind Runa, die jünger ist als ich, und Mandak, die noch viel jünger ist und noch ihre ersten Zähne hat. Gruba ist ihre Mutter und Olo ihr Vater.

Wir alle gehören zum Mammut-Clan und passen gut aufeinander auf. Wir jagen zusammen, bauen unsere Wohnstätten, helfen uns bei der Herstellung von Waffen und Kleidung. Es gibt aber auch andere Menschen. Ich kenne die vom Bären-Clan und vom Wolfs-Clan. Manchmal treffen wir sie. Aber nicht sehr oft.

Bei uns im Clan gibt es noch Jingha und Seeta. Sie sind ¬Schwestern und viel jünger als die anderen Erwachsenen. Ihr Vater ist der uralte Drag. Jinghas Mann ist Nagok und Seetas Mann ist Umu. Seeta hat ein kleines Mädchen, das ist Gat, die ist aber noch so jung, dass sie fast nur Milch trinkt. Jingha hat zwei Kinder; eines ist Jingho und das andere hat noch keine Namensseele.

Wie das mit den Seelen ist, das hat mir Gruba erzählt. Sie ist die älteste Frau in unserem Clan und kennt sich aus mit den Geistern, denn sie ist eine Damughana. Das sind weise Frauen, die mit den Wesen der anderen Welt in Kontakt sind und wissen, wie man sie gnädig stimmt. Manchmal sind es auch Männer; im Bären-Clan gibt es einen Damughan. Gruba sagt, ein fertiger Mensch hat drei Seelen. Die Tierseele, das Shoghee, geht in den Körper, wenn ein Kind aus seiner Mutter kommt. Wenn es kein Shoghee hat, kann es nicht atmen. Alle Lebewesen haben ein Shoghee und jedes Shoghee, das einen Körper verlassen hat, sucht sich schnell einen neuen Körper. Das kann ein Mensch sein oder ein Tier oder eine Pflanze. Ein Shoghee, das keinen Körper findet oder das von seinem alten nicht loskommt, kann großes Unheil anrichten.

Die Namensseele, das Thanghee, wird einem Kind von seinen Verwandten gegeben, wenn es länger als einen Wanderkreis gelebt hat. Ein Wanderkreis, das ist: Die Zeit der Kälte in der Höhle, die Zeit der Rentierjagd am Fluss, die Zeit der Wärme mit dem Sommerfest und der Mammut-Jagd, dann die zweite Zeit am Fluss mit der großen Jagd an der Rentierenge. Wenn es wieder richtig kalt wird, beginnt ein neuer Wanderkreis. Das Thanghee erhält das Kind beim Sommerfest. Die dritte Seele macht ein Kind zu einem Mann oder zu einer Frau. Ein Junge muss für sein Munghee, seine Mannseele, kämpfen. Er zeigt, dass er ein guter Jäger geworden ist; er geht in der Zeit der Wärme allein hinaus und besucht die Welt der Geister. Hat er alles gut gemacht, gibt ihm die Damughana sein Munghee beim großen Sommerfest. Ein Mädchen muss sich sein Kaghee, seine Frau¬seele, nicht suchen, sondern das Kaghee sucht es und fährt in es hinein. Wenn das geschieht, wird es verletzt und beginnt zu bluten; dann ist das Mädchen zur Frau geworden.

Das mit den Seelen muss man genau wissen, denn wenn eine aus dem Körper geht oder wenn sie von einem Dämon gefangen wird, dann wird der Mensch krank. Das ist auch mit Nagok passiert, als ihn die Wölfe verletzt haben. Ich werde diese Zeit der Kälte nicht so schnell vergessen, denn viele schlechte Geister hatten unseren Clan heimgesucht. Tagelang hatte der Windgeist getobt; wir konnten nicht vor die Höhle gehen, so eisig war der Tanz des Windes mit der Schneegeistin. Der Magen knurrte wie ein wütender Wolf. An jenem Tag als Olo, Umu und Nagok losgingen, um Fleisch aus dem Vorratslager zu holen, gingen auch Waka und Drag los auf die Jagd nach einem Schneehasen oder einem Lemming. Aber sie brachten keine Beute. Gruba redete den ganzen Tag lang mit den Geistern. Eki und ich übten den Wurf mit dem Speer. In der Nähe der Höhle hatten wir uns aus einem alten Rentierfell ein Ziel gemacht, auf das wir die Waffe warfen. Eki zeigte wie ein Jäger richtig steht, wie er den Speer hält, wie er den Arm bewegt. Natürlich kannte ich das alles schon, aber man muss es viele Male üben, man kann es immer noch ein wenig besser tun. Eki war schon recht gut im Speerwerfen. Er wollte ja auch im Sommer ein Jäger werden. Als ich einmal daneben zielte und meine Speerspitze am Felsen zersplitterte, brachte mir Eki bei, wie man aus Feuerstein eine neue Spitze schlägt, sie in die Kerbe des Holzschaftes einsetzt und mit Lederstreifen und Birkenpech befestigt. Manchmal kam Ebo herbei, um uns zu sagen, was man noch besser machen konnte. Ebo musste sich um das Feuer kümmern, weil Gruba so beschäftigt war. Außerdem half er den Frauen beim Kauen der Felle.

Die Bearbeitung der Felle ist eine wichtige Aufgabe. Um das Leder geschmeidig zu machen, muss es lange mit den Vorderzähnen gekaut werden. Eigentlich ist das, wie alles bei der Verarbeitung von Fellen und der Herstellung der Kleidung, Frauensache. Doch wenn ein Mann nicht Wichtigeres zu tun hat, hilft er beim Kauen mit, denn das ist eine anstrengende Sache für die Zähne. Seeta wollte für ihre Tochter Gat die erste Kleidung machen, denn Gat war nun schon so alt, dass sie laufen konnte und nicht mehr die ganze Zeit am Rücken ihrer Mutter sitzen sollte. Kleidungsstücke werden bei uns meist aus einem Stück gemacht und mit Lederstreifen oder -riemen befestigt. Die Fell- und Lederreste werden mit dem Steinmesser in Streifen geschnitten. Solche Streifen und Riemen brauchen wir für viele Zwecke.

Nachdem wir genug mit den Speeren geübt hatten, kehrten wir ins Gougatan zurück. Ich sah, wie Seeta und Jingha am Boden hockten, die Felle vor sich, die Steinmesser in der Hand. Jinghas Baby weinte, aber sie hatte keine Milch mehr. Da nahm Seeta das Baby an die Brust und gab ihm zu trinken. Aber auch Seeta hatte nicht mehr viel Milch; sie gab dem Baby die eine Brust und die andere behielt sie für Gat vor, denn Gat brauchte ja auch noch Milch. Jingha schaute mit einem seltsamen Blick auf ihre Schwester und das Baby. Erst viel später, als ich schon ein Mann war und auch Kinder hatte, verstand ich diesen Blick.

Runa, Tamog, Mandak und Jingho spielten in einer Ecke des Gougatan mit kleinen Knochen und Steinen. Ich glaube, sie spielten Gougatan, denn sie hatten aus Steinen einen Kreis gemacht, ihn mit kleinen Fell- und Knochenstückchen ausgestattet und ich hörte Runa sagen, dass sie nun Feuer machen müssten. Jingho, der Jüngste unter ihnen, verstand offenbar nicht so richtig wie das Spiel gehen sollten. Jedenfalls machte er ab und zu etwas falsch und dann erhielt er von Runa einen Klapps auf den Kopf und rannte heulend zu seiner Mutter Jingha.

Gruba hockte in einer anderen Ecke und hatte die Augen meistens geschlossen. Sie hielt Zwiesprache mit den Geistern oder ließ ihre Frauseele in die Ferne schweifen. Ab und zu ging sie hinaus, trat auf den Vorplatz und spähte in die Ebene nach den drei Jägern. Ihre Unruhe sagte mir, dass sie nichts Gutes erwartete. Der Tag war inzwischen schon weit vorangeschritten, und bald würde der Geist der Nacht das Licht verschlucken. Ebo kam zum Gougatan hinein, einen umgedrehten Hirnschädel des Mammuts in den Händen, den er in der Tiefe der Höhle mit Wasser gefüllt hatte. An Wasser mangelte es uns nie, denn im Schlund der Höhle gab es einen kleinen Fluss, ja sogar einen See, der auch bei der schlimmsten Kälte draußen nicht gefror. Die kleinen Kinder durften dort nicht hingehen, aber ich war schon so manches Mal mit einem Erwachsenen mitgegangen. Dort in der Tiefe war es finster und unheimlich; man musste eine Fackel mitnehmen. Ich wusste, dass die Höhle noch viel tiefer in den Berg hineinging, aber keiner von uns war dort unten je gewesen außer Gruba. Jedenfalls erzählte Gruba, dass sie früher mit ihrem Vater in den Tiefen gewesen sei und dass dort viele Geister wohnen.

Ebo stellte den Mammutschädel auf einen Kreis von Steinen, der verhinderte, dass er umkippte und das Wasser hinauslief. Waka und Drag kehrten ohne Beute zurück, als es dämmerte. Gruba ging wieder vor die Höhle, ich folgte ihr bis zum Höhleneingang. Ich sah, wie sie hinunter spähte in die weite Ebene. Drag stand neben ihr und schaute ebenfalls in die Ferne. Sie machten sich Sorgen. Das Wetter war nicht schlecht, nur ein bisschen Wind, aber kein Schnee und nicht so kalt. Weshalb waren die Jäger noch nicht zurück?

Ich ging zurück ins Gougatan. Meine kleineren Geschwister zogen sich wieder unter die Felle der Bettstatt zurück, denn es wurde im allmählich kühler. Ebo hatte das Feuer kleiner gemacht, wir mussten Brennmaterial sparen. Jingho, Mandak und Tamog würden bald müde werden, sich zusammenkuscheln und irgendwann einschlafen. Runa spielte noch mit ihnen, würde dann ebenfalls bald einschlafen. Auch Jingha hatte sich im Bett verkrochen; sie wirkte schwach. Mein Magen knurrte ganz entsetzlich, es war als wenn jemand mit einem Steinmesser im Bauch herumwühlen würde. Auch die Kleinen litten unter dem Hunger, sie schliefen nicht ein, sondern weinten und wollten etwas zu essen haben – jedenfalls Jingho und Mandak. Sie waren noch zu klein und konnten nicht verstehen, dass einfach nichts da war.

Schließlich kamen Gruba und Drag wieder ins Gougatan hinein und sagten, dass einige von uns den Jägern entgegengehen und sie suchen sollten. Gruba deutete auf Ebo und Eki, zündete zwei Fackeln an und dann schritt sie mit den beiden hinaus in die Dämmerung. Ich folgte ihnen bis zum Rand des Höhlenvorplatzes. Hier war es viel kälter als in der gemütlichen Höhle, der Eiswind blies, aber nicht sehr stark. Bald sah ich nur noch die beiden Fackeln, die im Wind stark flackerten. Einmal gelang es dem Windgeist, eine von ihnen auszublasen und sie mussten sie mit der anderen neu entfachen. Die Mondgeistin hatte sich hinter einer dünnen Wolkendecke versteckt, aber ihr schwaches Leuchten reichte, um ein bisschen zu sehen. Ich hörte Ebos Rufe in regelmäßigen Abständen. Dann änderten sich seine Rufe plötzlich, er hatte Antwort bekommen, die ich aber nicht hören konnte, und schließlich verstummte er. Sie hatten die anderen gefunden. Plötzlich bemerkte ich, dass Drag ebenfalls herausgekommen war und schon seit geraumer Zeit neben mir stand und in das fahle Licht blickte.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis die Fackeln wieder größer wurden und ich die sechs Gestalten auftauchen sah. Ebo und Eki hatten die Trage auf die Schulter genommen, aber darauf lag kein Fleisch sondern Nagok. Auf dem Höhlenvorplatz angekommen, setzten sie die Trage kurz ab, packten sie mit den Armen und schleppten sie durch den Höhleneingang bis vor das Gougatan. Ich hielt ihnen dabei die Felle des Eingangs beiseite. Erneut ließen sie die Trage auf den Boden hinunter und sagten zu Nagok, dass er aufstehen solle. Sie halfen ihm hoch und ins Gougatan hinein. Gruba befühlte Nagoks Stirn und Glieder und sagte, dass er sich unbedingt bewegen müsse, um wieder warm zu werden. Dann begann sie, das das Feuer zu schüren. Umu und Olo hatten auch die beiden Fackeln mit hineingebracht, um das Gougatan schneller zu erwärmen.

Nagok hinkte, auf Ebo gestützt, auf dem Boden herum. Stand er still, wurde er von den anderen kräftig gerubbelt. Nagoks Augen lagen tief in den Höhlen, er blickte starr vor sich hin und hatte den Mund zusammengekniffen. Er musste starke Schmerzen haben. Waka und Gruba machten eine Unterlage aus Fellen, auf die sich Nagok legen musste. Dann machten sie ihm das verletzte Bein und den Arm frei. Mit einem Stück Leder und Wasser wusch Gruba das Blut um die Wunden herum ab. Währenddessen sang sie Ghan-Lieder, um die Dämonen fern zu halten. Denn die trachten danach, in den Körper eines verletzten Menschen einzudringen.

Wir anderen standen mit etwas Abstand um Nagok herum und sahen zu, wie Gruba, Drag und Waka ihn behandelten. Die Wunde am Arm war nicht so tief. Sie hatte bereits zu bluten aufgehört. Am Bein sah es schlimmer aus; ein Stück der Fellhose hatte sich mit dem verkrusteten Blut auf der Wunde verklebt und Gruba hatte das Stück der Hose noch nicht weggenommen, weil die Wunde dann heftiger zu bluten angefangen hätte. Das konnten sie erst riskieren, wenn alles zum Verbinden bereit war. Sie holte zwei große Stücke getrockneter Blasenhaut. Eines gab sie Waka, das andere Drag. Die beiden hielten die Blasenstücke kurz ins Wasser und kauten sie solange, bis sie weich und geschmeidig wurde, benetzten sie zwischendurch immer wieder mit Wasser. Unterdessen hatte Gruba getrocknete Kräuter geholt und mit einem runden Stein auf einem Mammutschulterblatt zu feinem Pulver gemahlen. Dies vermengte sie mit kalter Asche.

Als Häute und Heilpulver vorbereitet waren, setzte Drag sich auf Nagoks Bein und löste mit einer schnellen Bewegung das Stück Fellhose von der Wunde. Nagok schrie laut auf vor Schmerz. Mit dem Fell hatte sich ein riesiger Hautfetzen halb gelöst.
„Schmerz gleich besser werden. Gruba Heilkräuter auf Wunde machen“, sagte die Damughana mit ruhiger Stimme. „Wolfzähne böse Geister herbei rufen, Gruba viel Heilkräuter nehmen, auch Wolfkraut. Dann Zauberlieder singen, Dämonen bald wieder weg gehen“.
Blut schoss aus der Wunde, Drag wischte soviel Blut ab wie es ging, die Damughana schüttete schnell Heilpulver hinein und der Alte klappte den Hautfetzen wieder über das rohe Fleisch. Darauf kam eine weitere Lage Heilpulver und dann legten sie die Blasenhaut darüber. Mit Lederriemen schnürten sie das Ganze fest, der Verband war fertig. Den Arm versorgten Gruba und Drag auf die gleiche Weise. Hier war die Wunde nicht so schlimm und eine Lage Heilpulver reichte. Ich hatte schon oft gesehen, wie die Damughana und der alte Jäger Verletzungen bei einem von uns behandelt hatten. Die beiden waren ein gutes Team.

Nagok hatte noch ein paar Mal aufgestöhnt, war dann erschöpft zurückgesunken auf sein Lager. Er wurde mit Fellen dicht zugedeckt und dann wechselten sich Gruba und Drag während der Nacht ab, um an seinem Krankenbett beschwörende Lieder zu singen und die bösen Geister abzuwehren.

Dämonen fordern ihren Tribut

Es wurde eine unruhige Nacht. Ich hörte, wie Geister und Dämonen draußen herumschlichen. Nicht um eine ganze Rentierkeule wäre ich jetzt vor das Gougatan oder gar hinaus auf den Höhlenvorplatz gegangen. Es müssen die Wolfsgeister gewesen sein; sie wollten durch die Wunden in Nagoks Körper hinein. Nagok wehrte sich und stöhnte auf seinem Lager im Kampf gegen die Geister. Auch der Windgeist war in dieser Nacht wieder erwacht und heulte vor unserer Höhle. Ich war froh, dass wir in unserem Gougatan so gut geschützt waren. Kein Jäger hätte draußen eine solche Nacht gegen die Geister durchgestanden und ich war froh, dass unsere drei Männer den Weg noch rechtzeitig zurückgefunden hatten, auch wenn Nagok verletzt war. Es hätte ja noch weit schlimmer kommen können.

Während ich auf meinem Platz lag, sah ich sie manchmal bis zum Eingang des Gougatan kommen, die Dämonen, sah wie eine behaarte Krallenhand durch die Felle davor fuhr und hineinschlüpfen wollte. Aber die Gesänge von Gruba und Drag waren stärker und konnten das Schlimmste für Nagok verhindern.

Am Morgen, als alles ruhiger geworden war, hörten wir plötzlich ein Aufschreien und Wehklagen von Jingha. Ihr kleiner Sohn war kalt und ohne Atem. Die Dämonen hatten sein Shoghee geholt. Das hatten Gruba und Drag nicht bedacht; sie hatten alle ihre Zauberkraft für Nagok gebraucht und da konnte das namenlose Kind eine leichte Beute der Geister werden. Wir anderen umringten Jingha und starrten auf das Kind ohne Seele.
„Dämonen Shoghee von Kind holen“ – „Das schlechtes Omen sein“ – „Jingha großes Unglück haben“ – „Geister zornig sein“, murmelte es.
Jinghas Schwester Seeta legte sich zu ihr und die beiden weinten zusammen. Aber Jingha hatte nicht viele Tränen; sie war selbst schwach und hatte wohl auch geahnt, dass die Geister sie und ihre Kinder umflatterten. Gruba nahm das kalte Kind, legte es auf ein kleines Fell auf dem Boden und deckte es zu.
„Kind heute in Erde legen, wir müssen Geister besänftigen“, sagte Gruba. „Nagok krank sein, aber Nagok leben. Wir müssen Nagok helfen, viel wichtig sein. Müssen Geister Geschenk geben, Worte geben, Gesänge geben“.
Sie ging zu Nagok hin, der inzwischen ruhig schlief, und befühlte seine Stirn. Seine Haut war sehr warm, aber ohne Schweiß. Dann fachte Gruba das Feuer an.
Als das erste Tageslicht durch die Rauchabzugsöffnung fiel, ging Drag vor die Höhle. Er sah nach dieser Nacht noch älter aus, und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er kam bald wieder herein, auf der Stirn tiefe Falten.
„Wetter nicht gut“, sagte er zu uns. „Windgeist zornig sein, Wolfgeister zornig sein. Keine Jagd heute“.

Mein Magen war auch zornig, aber wir hatten nichts mehr zu essen. Wir kauten Speckschwarte und nagten an alten Knochen, die eigentlich für das Feuer waren. Draußen heulte der Wind, an Jagd war nicht zu denken. Ebo, Olo und Drag gingen vor das Gougatan und scharrten weiter hinten im Höhlengewölbe eine Grube aus. Sie wählten eine Nische, die neben dem Gang lag, der zum Wasser und in die unergründlichen Tiefen der Geister führte. An der Stelle gab es schon einen Steinhügel; darunter lag eine kleine Tochter Grubas, die schon vor vielen Jahren in der Kalten Zeit in der Höhle gestorben war. Gleich daneben kratzten sie mit den Spitzen eines Rentiergeweihes und Schulterblattknochen eine Vertiefung in den Boden.

Die Stimmung im Gougatan war schlecht. Meine kleinen Geschwister spielten nicht friedlich wie sonst, sondern waren aggressiv und weinten viel. Als Drag, Ebo und Olo wieder hereinkamen, begann die Zeremonie für das tote Kind. Gruba hatte roten und gelben Ocker zu Pulver gemahlen. Sie feuchtete einen Teil des Pulvers mit etwas Wasser an und färbte die eine Gesichtshälfte des kalten Kindes gelb und die andere rot ein. Gelb steht für den Sonnengeist, Mungoy, der das Licht und das Feuer bringt. Rot ist die Farbe der Mondgeistin, Kagoy, die den Menschen Blut und Leben gibt. Mungoy wohnt in der Luft und in den Wolken, Kagoy ist die Erde, der Boden, auf dem die Menschen gehen. Dann malte Gruba mit schwarzer Asche das Zeichen unseres Clans auf die Stirn des Kindes – zwei gebogene Striche, die seitlich von einem länglichen Kreis ausgehen; der Kopf eines Mammuts mit seinen mächtigen Stoßzähnen. Denn schließlich gehören wir alle zum Mammut-Clan.

Jingha war zu schwach, um ihr Kind ohne Leben selbst zu tragen. Deshalb nahm Gruba den in das Fell gewickelten Körper auf die Arme, während Jingha von Seeta und Waka gestützt wurde. Wir gingen alle hinaus aus dem Gougatan in das Höhlengewölbe zu der kleinen Grube. Gruba legte das Bündel hinein und klappte das Fell zur Seite, so dass wir alle das Kind noch einmal ansehen konnten. Sie legte es auf die Seite, die Beine etwas angewinkelt und schob ihm die Hände unter das Gesicht. Nun sah es aus, als wenn es schlafen würde. Die Damughana streute reichlich roten Ocker über den Körper und zog von seiner Nabelgegend eine rote Linie, die aus dem Grab heraus über den Boden nach hinten in die Tiefe der Höhle führte.
„Shoghee kommen aus Geistwelt, Shoghee zurückgehen. Fliehen aus Körper von Kind, nicht kommen zu Menschen, gehen in Geistwelt, finden neuen Körper“, murmelte sie dabei. Die rote Blutlinie diente dazu, dem Shoghee des Kindes den Weg in die Geisterwelt zu weisen, die tief in der Höhle war. Denn wenn die Tierseele den Körper verließ, musste sie schnell einen Weg in einen neuen Körper finden. Sonst könnte sie zu einem Dämon werden und uns großen Schaden zufügen. Das weiß ich von Gruba, die sich mit den Geistern so gut auskennt wie niemand sonst.
Die Alte deckte das Fell über den Körper. Dann häuften Umu, Olo und Ebo den herausgekratzen Boden darum herum. Doch das reichte nicht, um das Kind ganz zu bedecken. Deshalb holten sie noch Steine herbei. Gruba und Drag sangen die Totenklage. Wir standen während der Zeremonie regungslos, obwohl es kühl und kühler wurde. Nur die ganz Kleinen blieben nicht ruhig, zupften die Erwachsenen am Fell, jammerten. Jingha sah mit glasigen Augen zu und wurde die ganze Zeit von Seeta und Waka gestützt. Als das Kind ganz bedeckt war, stieß sie einen markerschütternden, langen Schrei aus und sank zusammen. Seeta und Waka schleppten sie ins Gougatan und betteten sie auf das Lager. Wir folgten ihnen.

Dort wälzte sich Nagok in seinen Fellen unruhig hin und her. Auf seiner Stirn stand jetzt Schweiß. Gruba legte ihre Finger darauf.
„Körper von Nagok Feuer haben“, stellte sie fest.
„Nagok sterben?“, fragte ich.
„Still, still!“, fuhr sie mich an. „Dani nicht fragen. Worte Geister rufen, Geister Seele holen“.
Ich zuckte erschrocken zusammen, das hätte ich natürlich wissen müssen, solche Fragen darf man nicht laut stellen. Es war klar, dass Nagok schwer krank war. Sein Munghee befand sich bereits auf Wanderschaft, ob sein Thanghee noch in ihm war, konnte ich nicht erkennen. Wahrscheinlich wussten weder Gruba noch Drag, ob Nagok die nächsten Tage überleben würde oder nicht. Von seinen Wunden ging ein übler Geruch aus, der sicher die Dämonen von weit her anlockte. Vielleicht hatte ihn schon einer gepackt.

In der Unterwelt

Die kleinen Kinder krochen unter die Felle, wir anderen hockten uns im Kreis um das Feuer. Es brannte nur mit spärlicher Flamme, denn wir mussten Brennmaterial sparen. Es war so kühl, dass wir unsere Mäntel anbehielten. Es war aber nicht nur die wirkliche Kälte, sondern auch der Hunger und die ganze Kette des Unheils, die uns den Tag als kühl und trostlos erschienen ließen.

Plötzlich sprang Olo auf, als habe ihn das Horn eines Moschusochsen getroffen, und schritt in die Ecke, wo er Speer, Axt und Gürtel am vergangenen Abend abgelegt hatte. Er holte ein Stückchen Fell hervor und hielt es in die Luft.
„Das wir gestern gefunden haben bei Lager. Das von fremde Jäger sein“.
Wir umringten Olo und starrten auf das seltsame, blutverkrustete Stück Fell, das sich bei genauerem Hinsehen als ein Handschuh entpuppte. Doch so einen Handschuh hatte keiner von uns je gesehen. Er war nicht so rund wie die unseren, sondern länglicher und die seitliche Tasche für den Daumen wirkte zierlicher. Er war auch nicht durch Schnüre und Knoten zusammengehalten, sondern schien seine Form wie von selbst einzunehmen. Erst als wir genau hinsahen und das Kleidungsstück befühlten, sahen wir kleine Fäden, die sich durch winzige Löcher schlängelten und den Handschuh in seiner Form hielten. Drag befühlte das Teil, wendete es, starrte darauf und murmelte fortwährende Worte des Erstaunens. Danach nahm Ebo es und versuchte vergeblich, seine Hand hineinzustecken. Erst als er es mit der anderen Hand probierte und seinen Daumen mit etwas Kraft in die enge Daumentasche drückte, gelang es. Dann öffnete und schloss er die Faust, ergriff einen langen Knochen und zeigte, wie gut man mit dem Handschuh zupacken konnte. Er war für Ebos große Hand zwar etwas eng, aber dennoch viel beweglicher als unsere eigenen.

Doch inmitten des Gemurmels ertönte überraschend Grubas Ausruf: „Halt! Handschuh Fremde gemacht haben. Vielleicht Dämonen in Handschuh sein, vielleicht Geister wohnen darin. Handschuh weg müssen“.
Wir waren entsetzt. Daran hatte keiner gedacht außer der Damughana: In dem Kleidungsstück könnten fremde Geister wohnen, die uns zu schaden suchten. Und vielleicht hatten sie es schon getan und Jinghas Kind geholt. Gruba nahm den Handschuh, sprach eine Beschwörungsformel und warf ihn ins Feuer, wo er erst zu stinken und qualmen begann, um dann hoch aufzulodern.

Anschließend war unsere Stimmung noch schlechter, während wir tatenlos im Gougatan hockten. Die Hälfte des Tages war schon vorüber und an Jagd nicht mehr zu denken, auch wenn der Wind weniger heftig blies. Von Zeit zu Zeit stöhnte Nagok auf seinem Krankenlager. Einmal hatte ihn sogar ein Dämon gepackt und ließ ihn plötzlich hochfahren und mit einer fremden Stimme sprechen, doch dann fiel er wieder zurück in die Felle und er lag lange Zeit reglos da.
„Geister zornig sein, Unheil bringen zu Menschen“, sagte Gruba plötzlich. „Gruba gehen in Geisterwelt, in Höhle, müssen mit Geistern sprechen. Gruba gehen Geister besänftigen“.

Uns allen wurde klar: Das war die einzige Möglichkeit, die wir hatten. Gruba wollte in die Tiefe der Höhle steigen, um mit den Geistern zu verhandeln. Als sie ihre Worte sprach, begannen wir Hoffnung zu schöpfen. Nach all dem Unheil konnte es nur ein Gang in die Geisterwelt sein, der uns wieder Jagdglück bescheren würde. Und Gruba war die einzige, die den Weg in die Tiefe kannte.
„Dani mitkommen, rak!“, fügte Gruba hinzu. Ich zuckte vor Schreck zusammen. Die Damughana hatte mich auserwählt, sie in die Geisterwelt zu begleiten. Das war eine unheimliche Sache und ich war darauf nicht vorbereitet. Andererseits war es eine hohe Auszeichnung, denn eigentlich hätte Eki oder einer der Erwachsenen den Vorrang gehabt. Ich hatte schon öfter bemerkt, dass mich Gruba ansprach, wenn sie von den Geistern, Dämonen und Seelen erzählte. Vielleicht hielt sie mich für geeignet, auch ein Damughan zu werden, vielleicht wollte sie mich zu ihrem Geister-Schüler machen. Der Gang in die Tiefe war eine Herausforderung, aber gleichzeitig hatte ich fürchterliche Angst vor den Geistern. Sich mit ihnen einzulassen war gefährlicher als Rentiere, Moschusochsen oder Mammuts zu jagen. Vielleicht war es sogar schlimmer als mit den Wölfen zu kämpfen.

Gruba nahm einen großen und einen kleinen Beutel und suchte verschiedene Utensilien zusammen. In den großen Beutel kamen zwei mit Talg gefüllte Schädel von jungen Rentieren, die als Lampen dienten, und getrocknetes Gras. Den kleinen Beutel füllte sie mit Ocker, einem Stück Kohle, mehreren Knöchelchen und getrockneten Zauberpilzen. Dann holte sie ein kleines Gefäß aus Birkenrinde, dessen Inneres sie mit etwas Wasser anfeuchtete. Sie nahm ein paar grüne Blätter, die sie immer in ihrer Sammlung bereit hatte, wickelte etwas Glut vom Feuer hinein und verstaute sie in dem Behälter. Ich kannte das Birkenrindengefäß mit der Glut; wir nahmen es mit, wenn wir von einer Wohnstatt zur anderen umzogen und dort Feuer benötigten. Denn Flammen neu zu entfachen, war eine mühselige Angelegenheit und nur unter guten Umständen möglich. In der Tiefe der Höhle aber waren wir ohne Glut verloren, falls uns die Geister die Fackeln ausbliesen.

Schließlich reichte Gruba mir zwei Felle zum Tragen, die ich mir über die Schulter legte, sodann das Gefäß mit der Glut und eine Fackel. Sie selbst knüpfte sich den kleinen Beutel an den Gürtel, steckte eine Axt hinein, nahm den größeren Beutel in die eine, die zweite Fackel in die andere Hand. Schon kurz, nachdem wir das Gougatan verlassen hatten, stoppte Gruba und holte aus einem Versteck in einer Felsspalte ein Stück schieres, getrocknetes Fleisch hervor. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, im Magen drehte sich ein Stein herum, aber ich wusste, dass dieses Fleisch eine Opfergabe war. Die Alte steckte es in den Beutel und dann ging es in die Tiefe der Erde.

Ein schmaler, hoher Gang führte zum Höhlenfluss. In ihm wehte ein zugiger, feuchter und nach Boden riechender Lufthauch. Nach dem Ende des Ganges erweiterte sich die Höhle. Hier an dem Flüsschen hielten wir an. In einem Becken sammelte sich das Wasser zu einem kleinen See. An der Stelle, wo es wieder hinaus floss und dann in einer Spalte verschwand, hatte sich eine riesige Zunge aus Eis gebildet. Auch an mehreren anderen Stellen hatten sich kleine Wülste aus Eis gebildet und an der Decke hingen mehrere, riesige Eiszapfen. Von ihnen tropfte Wasser mit einem dumpfen „tock, tock“ auf den Boden oder mit einem „platsch“ in das Wasser.

Das Flüsschen führte jetzt nicht viel Wasser. Zum Ende der Kalten Zeit konnte es manchmal reißend und überschäumend werden. Einmal ist es sogar bis durch den Gang ins Höhlengewölbe und in unser Gougatan geflossen.

Gruba schöpfte mit der Hand etwas Wasser und trank es. Sie bedeutete mir, es ihr gleichzutun. Dann holte sie aus ihrem kleinen Beutel vier getrocknete Zauberpilze. Die zwei kleineren reichte sie mir und nahm selbst die größeren. Sie hielt sie kurz ins Wasser, steckte sie in den Mund und kaute auf ihnen. Ich machte es genau wie sie. Es dauerte einige Zeit, bis die trockenen, spröden Pilze zerkaut und hinuntergeschluckt waren. Sie schmeckten eigenartig bitter, erinnerten mich an eine Mischung aus Mammutleder und Erde. Schließlich sagte Gruba:
„Wir gehen zu Geister. Dani Weg genau merken, rak!“.
Sie schnürte sich den kleinen Beutel wieder an ihren Gürtel und nahm die Fackel, die sie in einen Spalt gesteckt hatte. Wir folgten dem Fluss. Es ging bergauf, die Höhle war wieder recht schmal geworden. Ich versuchte mir alle markanten Punkte genau einzuprägen, besondere Kanten und Vorsprünge, Richtungswechsel und die Form des Ganges. Solange wir dem Fluss folgten, war es einfach, sich zu orientieren. Dann bog Gruba durch eine schmale und sehr niedrige Öffnung ab und plötzlich befanden wir uns in einem riesigen Gewölbe. Hier war es nicht so zugig, wie in den schmalen Gängen, doch irgendetwas war mir unheimlich an dieser Grotte. Vielleicht, weil die Wände so weit entfernt waren, dass sie vom Fackelschein nicht mehr erreicht wurden und so im Dunkel verschwanden.

Plötzlich fuhr ich zurück, als ich hinter einem Vorsprung einen riesigen Kopf erblickte. Ein furchterregender Dämon starrte mich an! Aber Gruba hatte keine Angst. Ganz ruhig ging sie mit ihrer Fackel darauf zu. Sie hatte meinen Schrecken sehr wohl bemerkt.
„Kein Geist. Kopf von Höhlenbär. Lange tot“, erklärte sie. Tatsächlich, es war nur der knöcherne Schädel eines Bären, deponiert auf einem steinernen Sockel an der Wand der Grotte. Gruba hielt ihre Fackel zum Boden hin und ging ein Stück am Rand entlang. Nun sah ich, dass die ganze Grotte mit Höhlenbärenknochen übersäht war. Schädel, Langknochen, Rippen, Beckenknochen, Schulterblätter, einzelne Zähne, alles war vorhanden und hatte sich vor allem am Rand der Grotte angehäuft. Die Damughana ging weiter, dorthin wo sich die Grotte wieder verengte. Jetzt ging es wieder abwärts. Der Weg schlängelte sich, machte ein paarmal Kurven. Der Boden war feucht. Manchmal tropfte Wasser von einem steinernen Zapfen, manchmal knirschten kleine Steine unter unseren Füßen, sonst war kein Geräusch zu hören. Ich war so sehr damit beschäftigt, mir den Weg einzuprägen, dass ich gar nicht dazu kam, mich vor Dämonen und Geistern zu fürchten. Aber vorerst begegneten wir ihnen auch nicht.

Schließlich erweiterte sich der Gang wieder etwas, aber nicht sehr. Gruba ging zu einer Nische, an deren Ende sich ein Durchschlupf fand, der zwar breit, aber so niedrig war, dass wir uns bücken mussten. Dahinter eröffnete sich ein kreis- und kuppelförmiger Raum etwa von der Größe unseres Gougatans. Seine Wände waren vollkommen glatt, der Boden eben. Er war nur durch die schmale Öffnung mit dem Gang verbunden und deswegen völlig windstill. Etwa in der Mitte des Raumes lag eine ebene Steinplatte auf mehreren großen Steinen.

Gruba nahm mir die beiden Felle ab und legte sie zu beiden Seiten dieses Tisches auf den Boden. Dann bedeutete sie mir, mich auf das eine Fell zu setzen. Sie stellte die beiden Talglampen auf beiden Seiten des Tisches auf und entzündete sie mit den Fackeln. Die Fackeln selbst löschte sie, um sie für unsere Rückkehr zu bewahren.

Ich saß ruhig auf dem Fell und bereitete mich auf das Treffen mit den Geistern vor. Sie würden bald kommen, das spürte ich. Gruba nahm jetzt die Kohle und färbte mein Gesicht dunkel. Ebenso tat sie es bei sich selbst. Dadurch könnten die Geister uns nicht sehen und uns schaden, erklärte mir die Zauberin. Dann bemalte sie einige kleinere Steine mit rotem Ocker und ordnete sie im Kreis auf der Steinplatte an. Das Stück Fleisch, das wir für die Geister mitgenommen hatten, legte sie in dessen Mitte. Jetzt begann sie mit singender Stimme zu murmeln:
„Kagoy, Geistin von Erde, von Höhle. Gruba rufen Kagoy, rufen Geisterkinder von Kagoy. Menschen bringen Geschenk für Kagoy und für Geisterkinder. Menschen gut waren, aber Menschen kein Jagdglück haben. Wir rufen Kagoy und Geisterkinder von Kagoy. Wir bitten Menschen helfen“.
Sie wiederholte ihre Worte, bedeutete mir mitzumachen. Ich spürte plötzlich eine Übelkeit im Magen. Gruba, der Tisch, die Höhlenwand, begannen zu schwanken, etwas presste meinen Kopf, meine Augen, mein Gesichtsfeld zusammen. Die Zauberin nahm einige kleine Kochen aus ihrem Beutel. Einen drückte sie mir in die Faust, weitere ordnete sie auf dem Tisch zu einem Dreieck an und einen nahm sie selbst in die Faust, hielt ihn fest umschlossen.

Wir murmelten weiter unsere Worte, lauter, intensiver, eindringlicher. Das half mir, die aufkommende Übelkeit zu bewältigen. An den Blicken, die die Alte mir zuwarf, merkte ich, dass sie genau wusste, was in mir vorging. Ich vertraute mich ihr ganz an und spürte, dass sie mich sicher durch die Geisterwelt führen würde. Plötzlich begannen die Höhlenwände sich zu bewegen. Ich fühlte, dass sie lebendig waren, dass sie atmeten. Auch der Tisch, der Boden, alles floss langsam hin und her. Und es flüsterte von überall her, ohne dass ich die Worte, die ich hörte, verstehen konnte. Als ich auf die Felswand sah, bemerkte ich dort Wölbungen und Vertiefungen, die mir zuvor nicht aufgefallen waren – Abbilder von Menschen und Tieren sowie ein riesiges Gesicht mit großen, furchterregenden Augen, das wie eine Mischung aus verschiedenen Tieren wirkte. Ich sah auch, wie Grubas Schattengeist, den die Talglichter an die Wand warfen, zu einem riesigen, zotteligen Wesen heranwuchs. Schlagartig wurde mir klar, dass ich nun in der Geisterwelt war. Ich hatte immer geglaubt, dass man Geistern begegnen würde wie einem Tier, das plötzlich hinter einem Felsen auftaucht oder einem Menschen, der in eine Wohnstatt herein kommt. Nun wurde mir klar, dass sie schon in allen Dingen steckten, in den Wänden, in den Köpern, im Boden. Und jetzt konnte ich sie sehen.

Wir murmelten weiter, aber es waren nicht mehr Gruba und ich, die diese Laute von sich gaben, sondern es waren fremde Stimmen, die aus unseren Körpern tönten. Das schwarze, zottelige Wesen, das aus Grubas Schatten erwachsen war, war ein freundlicher Dämon; ich hatte keine Angst vor ihm. Eine menschliche Figur, die aus dem Relief der Höhlenwand aufgetaucht war, begann zu sprechen, beschwor Kagoy und ihre Kinder, die Dämonen der Tiefe. Das seltsame Misch-Wesen, das weder Mammut, noch Rentier, noch Moschusochse und doch alles zugleich war, bewegte sich, rannte los, von Angst und Furcht verfolgt. Der Mensch an der Höhlenwand – es war eine von Grubas Seelen – rief Mungoy, den Sonnengeist an. Es wurde heller und heller in der Höhle. Auf einmal befanden wir uns oben an der Erdoberfläche, in einer riesigen Ebene. Das Wesen rannte über die Gräser in wilder Flucht, Menschen verfolgten es. Der Boden war ein riesiges Gesicht, es war Kagoy und auch der Himmel war ein riesiges Gesicht, das war Mungoy. Eine Zauberin rief eine Beschwörung und dann lief das Mammut-Ren-Moschus-Tier langsamer, blieb stehen, drehte sich um, kam heran. Die Zauberin sprach zu ihm, übergab ihm als Geschenk ein Bündel der wertvollsten Kräuter und Gräser. Das Tier legte sich vor ihm nieder. Es hatte einen Mammutkopf mit einem Rentiergeweih, Vorderbeine und Brust des Moschusrindes und das Hinterteil eines Rens. Etwas fiel vom Kopf des Tieres herunter, das aussah wie riesige getrocknete Pilze; es waren die Mammutohren des Wesens. Und doch hatte das Tier noch immer seine Ohren als wenn sie ihm im selben Augenblick nachgewachsen waren. Die Zauberin nahm die Ohren-Pilze und bat das Tier, seine Kinder töten zu dürfen. Es neigte sich auf die Seite wie zum Schlafen. Dann versank es langsam im Boden, verschmolz mit dem Untergrund. Der Boden, der noch immer die Form eines riesigen Gesichtes hatte, hob sich empor, immer schneller, immer höher. Es war Kagoy, die Mondgeistin, die sich nun in rasender Fahrt dem Himmel näherte. Dort wartete Mungoy, der Sonnengeist. Mir wurde schwindelig, doch es ging immer weiter hinauf, gleichzeitig abwärts und rundherum. Die Geister, die Welten, prallten zusammen, verschmolzen in einem riesigen Feuerschein, heller als die Sonne in der warmen Zeit. Dann verglühte alles, und ich stürzte in ein riesiges rabenschwarzes Loch.

Als ich die Augen wieder öffnete, bemerkte ich, dass wir noch immer in der Höhle, tief unten im Bauch der Erde saßen. Gruba saß mir noch genauso gegenüber wie zuvor, obwohl ich das Gefühl hatte, eine lange, lange Zeit sei vergangen. Sie blickte mich an und sagte:
„Dani Kagoy gesehen. Dani Mammut-Ren-Moschus-Tier und Mungoy gesehen. Dani später Zauberer werden. Geister sprechen gut, Gruba wissen. Wir zurück zu Menschen gehen“.

Gruba zündete wieder die Fackeln an und reichte sie mir. Dann löschte sie die Talglichter, verstaute sie und die Zauberknöchelchen in den Beuteln. Sie knüpfte sich die Sachen an den Gürtel, nahm eine Fackel und wies mich dann an, die Felle zu nehmen. Dann blickte sie auf die Steinplatte und meinte:
„Kagoy Opfer nehmen, Kagoy gut sein zu Menschen, Gruba sich freuen. Menschen bald Fleisch haben. Gruba werden großes Opfer machen für Kagoy, später bei Sommerfest“.
Gruba schlüpfte durch die schmale Öffnung aus dem Gewölbe hinaus. Ich folgte ihr, etwas wackelig auf den Beinen, mitgenommen von der Zeremonie. Mein Kopf schmerzte. Wieder versuchte ich, mir den Weg gut einzuprägen, doch war es schwierig, der Kopf war leer. Die Wände rückten nah heran, der Höhlenwind blies wie ein kalter, feuchter Atem. Ich spürte, da war noch ein anderer Geist, ein finsterer Dämon, der uns Menschen nicht wohl gesonnen war. Und dann blies ein Windhauch beide Fackeln aus; wir versanken in völliger Dunkelheit. Mein Atem stockte, ich erblickte in der Finsternis die Schatten von umherhuschenden Menschen, die etwas Unheimliches ausstrahlten. Sie waren nicht wie unsere Sippenmitglieder, auch nicht wie die der anderen Sippen, die wir kannten, sondern sie hatten etwas Fremdes, Bedrohliches an sich. Dann sah ich glühende Augen auf mich zukommen und schrie aus Leibeskräften. Von allen Seiten stürzten Dämonen auf mich ein, einer packte mich am Arm, schüttelte mich mit gewaltiger Kraft. Ich hörte eine vertraute Stimme, die von weit her zu mir drang, die eindringlich auf mich einsprach, erst leise, dann immer lauter werdend. Da bemerkte ich, dass es Gruba war, die mich am Arm hielt und zu beruhigen versuchte.

Die Geister zogen sich zurück, doch mein Herz schlug noch immer wie rasend, die Brust zog sich zusammen vor Beklemmung. Es war noch immer stockdunkel. Wie sollten wir den Weg wieder hinausfinden, wie sollten wir in der Finsternis den Dämonen entgehen, die hinter jeder Ecke lauerten? Ich hörte, dass Gruba in der Dunkelheit hantierte. Plötzlich sah ich ein schwaches, dunkelrotes Leuchten. Die Damughana hatte die Glut aus dem Birkenrindengefäß genommen und auf ein Bündel mit getrocknetem Gras gelegt. Jetzt hockte sie am Boden und blies vorsichtig und mit großer Ruhe, bis aus dem Gras ein zartes Flämmchen loderte. Schnell zog sie eine der erloschenen Fackeln hervor und hielt sie darüber. Es schien mir eine Ewigkeit zu dauern, aber schließlich loderte die Fackel wieder auf. Wir waren gerettet.

Es war schon tiefe Nacht als wir das Gougatan wieder betraten. Waka und Olo saßen aneinander geschmiegt neben Nagoks Krankenlager, hatten sich einige Felle umgelegt. Das Feuer brannte nur mit kleiner Flamme, und es war kalt im Raum. Die anderen hatten sich in den Fellen des Gemeinschaftslagers vergraben, konnten aber zum Teil vor Hunger nicht einschlafen. Alle wachen Augen richteten sich gespannt auf uns.
„Kagoy, Mungoy und Mammut-Ren-Moschus-Tier gesprochen haben zu Gruba. Auch zu Dani. Geister zufrieden sein. Menschen bald werden Fleisch haben, Nagok bald gesund werden. Schwarze Dämonen vielleicht gefährlich sein. Wir werden bald wissen. Aber Kagoy Menschen helfen“.
Hatte Gruba mit den Schwarzen Dämonen jene gemeint, denen wir ganz zum Schluss begegnet waren, als die Fackeln erloschen? Und hatte sie dasselbe gesehen wie ich – Menschen, die keine richtigen Menschen waren? Ich war mir nicht sicher und glaubte, dass ich mir diese fremden Gesichter vielleicht nur eingebildet hatte. Es musste etwas mit diesem merkwürdigen Handschuh zu tun haben, den wir verbrannt hatten.

Doch ich war zu müde und zerschlagen, um darüber weiter nachzugrübeln. Wir krochen in die Felle der Bettstatt. Auch Waka und Olo legten sich hin. Nagok schlief mit tiefem, festem Atem. Das Feuer erlosch. Ich spürte noch, wie Waka mir sanft mit der Hand über den Kopf fuhr, dann versank ich in einen tiefen, schweren Schlaf.

- Ende der Leseprobe -

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