Der Mammut-Clan

Ein Abenteuer aus der eisigen Welt der Neandertaler

Roman

von Henning Engeln

Ein junger Jäger mit Pelzumhang und Holzspeer vor einer eisbedeckten Felswand

Leseprobe - Der Mammut-Clan

Kapitel 1 – Der harte Winter

Nach dem Schneesturm

Drag schob den Fellvorhang beiseite, schlüpfte durch die schmale Öffnung und trat auf den Höhlenvorplatz. Der Sturm hatte sich gelegt, aber noch immer strich ein scharfer, kalter Wind über die Felsen. Rechts neben dem Höhleneingang hatte der Sturm eine halbmeterhohe Schneewehe aufgehäuft, der Vorplatz selbst wirkte wie glatt gefegt. Es war dämmerig, die Sonne hatte sich noch nicht über die Großen Berge geschoben. Drag machte sich Sorgen. Dieser Winter war hart und andauernd wie schon lange nicht mehr. Das Fleisch war fast völlig aufgebraucht, die Brennstoffvorräte drohten ebenfalls zur Neige zu gehen. Der Mann wischte sich eine silberne Haarsträhne aus der Stirn und blickte prüfend in die schmuddelig weiß-grau schimmernde Ebene. Es würde riskant sein, bei diesem Wetter hinaus zu gehen. Der Wind könnte sich wieder zum Schnee- und Sandsturm entfachen. Aber er wusste, dass einige der Männer trotzdem würden gehen müssen, um Vorräte herbeizuschaffen. Er selbst war zu alt, um mitzugehen. Ein schlecht verheilter Knochenbruch des rechten Beins und Schmerzen in den Gelenken hatten ihm die Kraft des Jägers geraubt. Schon 42 Wanderkreise – Jahre – hatte er durchlebt. Das konnten nicht viele seiner Art von sich sagen. So war er nicht mehr in der Lage, mit den anderen zu jagen und Fleisch heranzuschaffen, doch konnte er mit den Frauen sammeln gehen und der Sippe mit seinen reichen Erfahrungen dienen. Doch das würde nicht reichen: Es würde nötig sein, die Zeichen der Geister zu deuten und sie günstig zu stimmen, um diesen harten Winter zu überstehen. Er musste mit Gruba reden.

Der alte Neandertaler drehte sich herum, um in das Gougatan, die Wohnstatt aus Fellen und Knochen, zurück zu schlüpfen. Der Höhlenvorplatz war etwa zehn Meter breit, gut zwei Meter tief und wurde von einem schützenden Felsendach überdeckt. Das vorspringende Dach fiel ab bis zum Höhleneingang, der nicht viel höher als ein Mensch und etwa doppelt so breit war. Diesen äußeren Eingang schützte ein Fellvorhang, hinter dem sich die Höhle zu einem größeren Gewölbe erweiterte. Dort hatten die Bewohner das Gougatan an eine halbkreisförmige Vertiefung in der rechten Seite des Felsens gebaut. Eine ovale Konstruktion von rund acht Metern Durchmesser, dessen hintere Begrenzung aus der Felswand bestand. Die vordere Wand hatten sie aus Knochen von Rentier und Mammut aufgetürmt, mit getrocknetem Steppengras isoliert und außen wie innen mit einer Fellschicht behängt. Lediglich ein schmaler, stets mit einem Fell verdeckter Eingang bot Durchschlupf ins Innere der Wohnstatt.

Gruba, die ebenfalls schon aufgestanden war, hatte das Fell vor der oben in der Wand liegenden Rauchabzugsöffnung beiseite geklappt. Jetzt hockte sie an der Feuerstelle und bemühte sich mit spitzem Mund, die Glut wieder zu einer Flamme anzublasen. Auch Olo und Waka waren erwacht, saßen inmitten der Bettstatt und blickten schlaftrunken auf den hereinkommenden Drag. Die anderen Sippenmitglieder schliefen fest unter dem Berg von Fellen. Nur eine hier und da herausragende Hand oder ein Kopf zeugten davon, dass hier in der Winterhöhle des Mammut-Clans noch weitere 13 Kinder und Erwachsene ruhten.

„Wetter vielleicht gut werden, vielleicht nicht gut werden“, meinte Drag. „Männer müssen gehen, Fleisch holen aus Lager“. Für den Sippenältesten war klar, dass die Jäger heute losziehen mussten, um aus einem Vorratslager Nahrung zu besorgen, auch wenn das Wetter nicht ganz ungefährlich für einen langen Ausflug war. Gruba warf Drag nur einen flüchtigen Blick zu, während Olo als einer der in Frage kommenden Männer nickte. Dann wühlten er und Waka sich aus den Decken heraus, zogen ihre Fellschuhe über und machten Bewegungen, um den Kreislauf in Gang zu bringen und sich warm zu machen. Die Temperatur in der Behausung lag noch unter dem Gefrierpunkt.

Gruba hatte inzwischen aus Glut und trockenem Gras eine Flamme entfacht, sie mit einem fetten Knochen zu einem kleinen Feuer entzündet und schlüpfte hinaus, um weiteres Brennmaterial von dem arg geschrumpften Haufen herbeizuschaffen, der neben dem Gougatan innerhalb der Höhle lag. Mit 36 Jahren war sie die älteste Frau der Sippe und damit „Hüterin des Feuers“ – eine verantwortungsvolle Aufgabe, von der das Überleben der kleinen Gruppe abhing. Denn ohne Glut vermochten sie auch dem fettesten Knochen und dem trockenstem Grashalm keine Flammen zu entlocken. Gruba packte ein paar Schulterblätter, einen Oberschenkelknochen vom Mammut und eine Speckschwarte. Als sie wieder im Gougatan vor der Feuermulde saß und aus dem kleinen Flämmchen ein wärmendes Feuer erwuchs, kam langsam Leben in die Behausung. Die erwachsenen Jäger Umu, Nagok und Ebo streiften ihre Schuhe über. Umu schlüpfte durch den Eingang, um draußen seine Notdurft zu verrichten. Runa, Jingho und Tamog tobten unter den Decken herum, während Seeta auf der Kante der Bettstatt saß und ihre eineinhalbjährige Tochter Gat säugte. Jingha hingegen lag noch unter den Fellen, sie hatte unter der kargen Ernährung besonders zu leiden, denn ihr zweiter Sohn war erst elf Monate alt und sie trug schon wieder neues Leben in sich. Ihre Milch war knapp und drohte zu versiegen. Plötzlich sprang sie auf, lüftete ihren Mantel und hielt das Kind, das sie direkt am Körper getragen hatte, unterhalb des Mantels etwas von sich ab. Instinktiv hatte sie gespürt, dass der Kleine Wasser lassen musste. Nachdem der Strahl versiegt war, kehrte sie nochmals unter die Felle der Bettstatt zurück. Das riesige Gemeinschaftslager erstreckte sich über die ganze Länge des Gougatan und war tiefer als ein Mensch lang war. Es schmiegte sich bogenförmig an die hintere Höhlenwand und bestand aus einer dicken Lage kleiner Äste und getrocknetem Gras, bedeckt von zwei Schichten aus Rentierfell. Als Decke dienten mehrere Lagen verschiedener Felle.

Inzwischen war es so hell geworden, dass auch durch die Rauchöffnung ein wenig Licht in das Gougatan fiel. Zeit für die Lagebesprechung der Jäger. Wie auf ein geheimes Zeichen, aber ohne ein Wort zu wechseln, hockten sich die fünf erwachsenen Männer um das Feuer. Das Jagen von Großwild und das Herbeischaffen von Nahrung über größere Entfernungen war Männersache. Zwei Jugendliche standen abseits und schauten interessiert zu den Erwachsenen. Es war dem Gesicht Ekis anzusehen, dass er am liebsten mit hinaus gehen würde, so sehr brannte er vor Tatendrang. Doch der 15-jährige Sohn von Gruba und Olo hatte noch nicht die Jägerweihe empfangen, obwohl er fast schon erwachsen war. Davon war sein Freund Dani noch weiter entfernt, der zwei Wanderkreise weniger durchlebt hatte, aber ständig mit Eki zusammen hockte.

„Wir haben zwei Lager“, begann Drag.

„Zwei Lager“, wiederholte Nagok.

„Zwei Lager, rak!“, betonte Umu.

„Zwei Lager voll mit Fleisch von Rentier“, meldete sich Ebo. Und auch Olo bezeugte, dass er Bescheid wusste: „Olo wissen, wo Lager sein“.

Nun bekräftigten die anderen, dass sie ebenfalls wussten, wo sich die Lager mit den Vorräten befanden. Es handelte sich um zwei Stellen in der Nähe der Rentierenge, die sich etwa einen halben Tagesmarsch östlich der Höhle befand. Dort hatte die Gruppe im vergangenen Herbst Rentiere gejagt und wie üblich jenen Teil der Beute unter Steinen verdeckt zurückgelassen, den sie nicht mit in die Höhle zu schleppen vermochte. Als eiserne Reserve für Notzeiten.

„Drag sagen: Drei Männer müssen zu Lager gehen“, schlug der Sippenälteste vor und die anderen pflichteten bei „Drei Männer, rak!“.

„Olo, Umu, Nagok gehen, Ebo bleiben“, entschied Drag. Ebo protestierte zwar, denn er hätte gerne an der ehrenvollen Aufgabe teilgenommen. Doch es war wichtig, dass einer der kräftigen erwachsenen Männer bei der Gruppe blieb. Und da die anderen dem Ältesten zustimmten war klar, dass Ebo in der Höhle blieb.

„Weg lang sein, Zeit knapp werden. Wetter vielleicht gut werden, vielleicht Schnee fallen und kalt sein“, fuhr Drag fort.

„Langer Weg egal, Männer schnell gehen, Männer gute Jäger sein“, entgegnete Olo, „Wetter mehr schwierig“.

„Wetter schwierig“, meinte auch Umu.

„Wetter vielleicht gut, vielleicht nicht gut werden. Schwierig, schwierig“, ließ sich Nagok vernehmen.

„Wenn Wetter schwierig werden, Menschen müssen Windgeist fragen“, schlug Ebo vor.

„Rak!“, stimmte Drag zu. „Gruba müssen Windgeist fragen. Gruba hinausgehen, Zwiesprache halten?“. Der grauhaarige Jäger blickte erwartungsvoll auf die älteste Frau im Clan, denn sie war nicht nur Hüterin des Feuers, sondern auch die Damughana, die Schamanin, und deshalb im Umgang mit den Geistern vertraut. Gruba nickte Drag zu, nahm ein Stück roten Ockers und verschwand durch den Eingang. Draußen auf dem Höhlenvorplatz, kurz vor der Kante, an der der Berg steil abzufallen begann, hockte sie sich hin und zeichnete mit der roten Farbe eine Art Kreis und mehrere wellenförmige Linien. Dann schloss sie die Augen und begann einen eindringlichen, mehrere Minuten andauernden Singsang, bei dem sie ihre Stimmlage mehrfach wechselte.

Gruba redete in einer geheimen Sprache mit dem Windgeist. Sie beschwor ihn, sich heute der Ruhe hinzugeben, die Männer ungestört Nahrung holen zu lassen und versprach ihm dafür ein Opfer und einen Ehrentanz während des Sommerfestes. Gruba fragte den Windgeist, warum er so erzürnt sei, dass er tagelang über die Ebene hatte tosen müssen und ob sein Zorn nun vorüber sei. Und als die Damughana in sich hineinhorchte, hörte sie eine sanft säuselnde Antwort, die sich als ermutigendes Zeichen deuten ließ.

Eng aneinander geschmiegt hatten Eki und Dani die Schamanin durch den Fellschlitz am Eingang der Behausung beobachtet. Sie spürten die Anspannung, die die Alte, aber auch die anderen Männer insgeheim ergriff, wenn sie sie auch nicht nach außen zeigten. Vom Ausgang dieser Expedition hing viel für die Gruppe ab. Die kleineren Kinder hingegen ahnten nichts und tobten vergnügt auf dem Bett herum, quakten nach Essen oder spielten mit Knochenstückchen.

Unterdessen hatten Olo, Umu und Nagok Mäntel und Kapuzen umgelegt und sorgfältig zugeschnürt. Dabei behielten die Frauen ein Auge darauf, dass die langen Striemen der Kleidung perfekt verdrillt waren, denn nichts wäre fataler, als wenn der eisige Wind durch eine Ritze an den Körper gelangen und ihm die Wärme rauben könnte. Die Männer hatten sich Gürtel umgebunden, ihre Steinäxte mit den Holzschäften hineingesteckt und einige Ersatzschnüre und Bändsel mitgenommen. Dann hatten sie ihre Fäustlinge übergestülpt, die hölzernen, vorne mit einer Steinspitze versehenen Speere genommen und sich mit einem „Männer gehen, zurückkommen wenn Tag fertig, Fleisch bringen“ von der Gruppe verabschiedet. Umu und Nagok packten eine der beiden hölzernen Tragen, die an der Felswandwand im Höhleninneren neben dem Gougatan lehnten und legten ihre Speere darauf. Olo war schon voraus geschritten, blickte fragend zu Gruba, die auf dem Vorplatz wartete und ihren Aufbruch beobachtete. Die Damughana nickte Olo aufmunternd zu und kehrte ins Innere der Höhle zurück als Umu und Nagok auftauchten. Nun wussten die drei Männer, dass der Windgeist ihnen wohl gesonnen war. Sie zogen los, Olo voran, die beiden anderen mit der Trage hinterher.

Der alte Drag war mit Umu und Nagok hinaus gekommen und hatte sie bis zum Rand des Vorplatzes begleitet. Dort oben stand er jetzt und blickte den drei Jägern hinterher. Mit seinem mächtigen Überaugenwulst, den wuscheligen, silbergrauen Haaren und den strahlend blauen Augen bot er eine imposante Erscheinung. In seinem kräftigen, weit nach vorne ragenden Kiefer prangten gewaltige Zähne, die schon stark abgenutzt waren. Das vorspringende Gesicht, der flache Scheitel und das nach hinten verlängerte Hinterhaupt verliehen dem Schädel ein längliches Aussehen. Gleichzeitig aber gingen der Kopf, der breite Nacken und die Schulter fast nahtlos ineinander über und gaben dem Körper eine gedrungene, kompakte Form. Kiefer, Nacken, Schultergürtel, Arme und Beine waren zudem mit starken Muskelpaketen ausgestattet, die dem Mann trotz seiner Verletzungen noch immer enorme Körperkräfte verliehen.

Schon oft in seinem Leben hatte er gefährliche Situationen gemeistert und so konnte er erahnen, auf welch riskantes Abenteuer sich die Männer einließen. Während er ihren Abstieg verfolgte, ließ er den Blick routinemäßig mehrfach über die Gegend bis weit in die Ebene schweifen. Und da wurde er plötzlich stutzig. Waren da draußen nicht zwei sich bewegende Punkte zu sehen? Lebewesen? Seine Augen funktionierten noch immer sehr gut, aber die Objekte waren zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen. Die Art, wie sie sich bewegten, erinnerte den Alten nicht an die von Tieren, die er kannte. Aber Menschen? Es schien ihm unmöglich, dass sich zwei Menschen bei dieser Witterung dort unten in der Ebene aufhalten konnten. Die Punkte wurden kleiner und verschwanden schließlich. Drag ließ die Beobachtung auf sich beruhen, doch tief in seinem Inneren ließ sie ein beunruhigendes Gefühl zurück.

Angriff der Wölfe

Der Weg führte die Jäger die Bergflanke hinunter, in deren oberem Abschnitt die Höhle lag. Kurz vor Erreichen der Ebene wurde der Hang noch einmal sehr steil. Hier wirkte der Felsen wie von einem riesigen Messer abgeschnitten. Doch die Männer kannten einen Pfad, der auch diesen Steilhang gefahrlos passieren ließ. Nach etwa 20 Minuten hatten sie die Ebene erreicht. Sie war riesig, erstreckte sich nach Süden und Südwesten hin soweit das Auge reichte. Ganz im Westen konnte man eine kleine Hügelkette erkennen, im Norden, hinter den Männern, lag das Bergmassiv mit der Höhle und im Südosten erhoben sich in der Ferne hohe Berge. An diese Richtung hielten sich die drei Jäger und marschierten mit kräftigen Schritten parallel zur Kante des Höhlenbergmassivs, das sich den gegenüber liegenden Ausläufern der fernen, hohen Berge näherte.

Die Sonne hatte sich über die Gipfel erhoben, verbarg sich jedoch hinter einem breiten Wolkenband und verlieh ihm einen weißrötlichen Schein. Abgesehen von diesem Wolkenband war der Himmel klar und tiefblau. Die Reste einer Wolkendecke, die noch vor kurzem den ganzen Himmel bedeckt hatte, waren weggetrieben. Die Ebene bot einen einförmigen, trostlosen Anblick. Wo kein Schnee lag, langweilte ein graubrauner Boden mit vertrockneten Gräsern das Auge, gelegentlich unterbrochen von einem glatt geschliffenen Felsblock, der hell schimmernd aus der platten Fläche herausragte und hinter dem sich dann eine Schneewehe angehäuft hatte. Rund die Hälfte der Fläche war mit einer Mischung aus Pulverschnee und Flugsand bedeckt, was dem Weiß ein schmuddeliges Aussehen verlieh. Es schneite nie viel in den Wintern, so dass die Jäger nicht mit tiefem Schnee zu kämpfen hatten und die paar Anhäufungen leicht umgehen konnten. Gefährlich werden konnte die Kälte, vor allem wenn sie sich mit heftigen Windböen zu einem eisigen Messer verband. Doch zum Glück für die Jäger regte sich zurzeit kaum ein Lüftchen.

Wortlos und mit kräftigen Schritten bewegten sich die drei Gestalten voran. Nach etwa zwei Stunden passierten sie die „Augen der Erde“, ein Gebiet aus Steinringen mit mehreren Metern Durchmesser, deren Rand aus...

- Ende der Leseprobe -

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